haben, vertrauen sich der Obhut eines professionellen Seelenhelfers an.»Wir leben im Zeitalter der
Psychotherapie und der Selbstverbesserung«, schreibt der amerikanische Sozialpsychologe Martin
Seligman,»Millionen Menschen kämpfen um persönliche Veränderung.«1 In ihren Köpfen, meint er,
habe sich der feste Glaube eingenistet, dass sich der Mensch mit Hilfe geeigneter Psychotechniken
tief greifend wandeln und von lästigen Schwächen und Fehlern befreien könne. Seit der Wiener
Neurologe Sigmund Freud vor 100 Jahren die Psychoanalyse erfand, hat sich dieser Glaube in allen
Industrieländern zu einer unantastbaren Gewissheit verdichtet. Von den» Lieferanten «der
psychotherapeutischen Leistungen werden die Betroffenen in dem haltlosen Wunschdenken
unterstützt, dass es in unserer» Vollkaskogesellschaft «für jede definierte seelische Notlage eine
exakt geeichte, fachmännische Heilmethode gibt. Dazu kommt meist die mehr oder minder
ausdrücklich erhobene Forderung, dass die Solidargemeinschaft die Seelenklempnerei großzügig
sponsern muss, will sie nicht in den Geruch unterlassener Hilfeleistung kommen.
Mittlerweile, klagt der Basler Sozialpsychiater Asmus Finzen, sei die Psychotherapie für viele
Zeitgenossen zum» Religionsersatz «geworden.1»Offenbar glauben Menschen an sie, wie sie an
Lourdes glauben. Sie erwarten Wunder von der Psychotherapie. «Diese überzogenen
Heilserwartungen stehen jedoch in einem radikalen Gegensatz zu den wissenschaftlichen
Kenntnissen, welche sich die» empirische Psychotherapieforschung «in den vergangenen
Jahrzehnten erarbeitet hat: Nicht nur, dass die» hilflosen Helfer «im Kampf gegen seelische
Störungen unter einer erschreckenden und wahrscheinlich vollständigen Ohnmacht leiden — unter
ungünstigen Bedingungen beschwört die Institution Psychotherapie überhaupt erst die Probleme
herauf, zu deren Bewältigung sie eigentlich angetreten war.
Zu diesem vernichtenden Urteil war der 1997 verstorbene britische Psychologe Hans Jürgen Eysenck
— eine Galionsfigur der Psychotherapiekritik und zugleich einer der weltweit einflussreichsten Gelehrten
des Faches Psychologie — bereits vor mehreren Jahrzehnten gelangt, 1960 schrieb der damals noch
erbittert angefeindete Einzelkämpfer:»Ich habe schon mehrfach festgestellt und mit einer Vielzahl von
Experimenten belegt, dass es kaum empirische Anzeichen dafür gibt, dass Psychotherapie einen
praktischen Nutzen hat… Die Beweise, die diese kritische Sicht unterstützen, sind sehr stark und wachsen
jedes Jahr.«2
Jetzt, nach mehreren Dekaden der Forschung und endlosen Debatten in der Fachpresse schließen sich
immer mehr skeptische Stimmen dieser einstmals verfemten Überzeugung an.»Der Glaube, dass die
therapeutischen Dienstleistungen in irgendeiner Form nützlich sind, dürfte auf einer Täuschung beruhen«,
rechnet zum Beispiel die kanadische Psychologin und Therapiekritikerin Tana Dineen enttäuscht mit der
Zunft der Seelenhelfer ab.3»Es fehlt jeglicher Beweis, dass die >professionellen< Vorgehensweisen
irgendwelche Substanz besitzen«, haut ihr britischer Kollege David Smail in die gleiche Kerbe.4
«Psychotherapeuten haben keine gültigen wissenschaftlichen Methoden und keine gültige Expertise«,
warnt der US-Psychiater Leo Coleman in einem Manifest gegen Psychotherapie, das der amerikanische
Rechtsanwalt Lawrence Stevens im Internet bereithält.5»Wenn die Arzneimittel-Zulassungsbehörde für
die Bewertung von Psychotherapien zuständig wäre, würde keines der existierenden Verfahren eine
Genehmigung erhalten«, hebt eine Forschergruppe um den Psychologen Bruce E. Wampold von der
University of Wisconsin in Madison hervor.6
Sogar Autoren, die im Prinzip einen günstigen Effekt der Redekur für möglich halten, sprechen ihr
einen real existierenden Nutzwert ab.»Jetzt, nach mehr als 30 Jahren Forschung«, resümiert der
amerikanische Psychologe Terence W. Campbell,»erlauben die angehäuften Fakten nur eine einzige
Folgerung: Psychotherapie hilft einigen, aber sie fügt vielen anderen Schaden zu. Diese
entgegengesetzten Wirkungen heben sich bei Untersuchungen an großen Zahlen von Patienten
gegeneinander auf.«7 Das gleiche pessimistische Fazit schwingt auch in den Formulierungen des vielfach
preisgekrönten Wissenschaftspublizisten Dieter E. Zimmer mit.8»Die meisten heute verfügbaren
Psychotherapien sind auf wissenschaftlich unsicherem Grund gebaut; einige sind reine Quacksalbereien.«
Dabei liefern die rigorosen» Qualitätskontrollen«, die die empirische Psychotherapieforschung in den
vergangenen Jahrzehnten durchgeführt hat, sogar noch ein künstlich beschönigendes Bild, hält Campbell
vor Augen:»Bei den betreffenden Studien wurden die Therapiesitzungen sorgfältig dokumentiert und von
Supervisoren überwacht, und ihnen lagen gründlich abgeleitete Zielsetzungen und Prozeduren zugrunde.
Das ist ein gewaltiger Unterschied zu den gängigen Verfahren, mit denen die überwältigende Mehrheit
der Patienten in Kontakt kommt, und die jeden Anspruch auf Qualitätsstandards in den Wind schlagen.«
Die Hauptursache für das grandiose Scheitern des Unternehmens Seelenheil dürfte darin liegen, dass
es sich bei den meist hoffnungslos verquasten Theoriengebäuden der therapeutischen Schulen in
Wirklichkeit um intellektuelle Luftschlösser handelt, die nicht den geringsten Bezug zu den tatsächlichen
Ursachen der gnadenlos therapierten Neurosen haben.»Traurige Tatsache ist, dass sich die
professionellen Hüter der seelischen Gesundheit in der Gewissheit wiegen, ein solides Verständnis der
Seele und des Verhaltens erworben zu haben«, geben der amerikanische Wissenschaftsjournalist Ethan
Watters und der Soziologie-Professor Richard Ofshe zu bedenken.9»Was sie sich jedoch meistens — ohne
ihre eigene Schuld — angeeignet haben, ist eine Ausbildung, die das psychologische Äquivalent von
Alchemie darstellt.«
Viele Kenner des Szene laufen mittlerweile gegen das» Pseudoexpertentum «der Psychotherapeuten
Sturm.»In der Bevölkerung ist der Glaube verbreitet, dass Psychotherapeuten in unsere Seele
hineinschauen, den Geist bei der Arbeit betrachten und vielleicht sogar unsere Zukunft vorhersagen
können«, erklärt der britische Psychiater Garth Wood.5»In Wirklichkeit besitzen sie diese Fähigkeiten
natürlich nicht.«
Und er schließt seine Stellungnahme mit bösen Worten ab:»Die Mythenmacher der Psychotherapie
haben uns eingeredet, dass man eine kranke Seele mit der gleichen Kennerschaft behandeln kann, die
beim Klempnern oder bei der Reparatur eines Autos greift. Das ist Schwachsinn. In Wirklichkeit besitzen
diese Therapeuten kein relevantes Training und keine besonderen Fertigkeiten, die bei der Kunst des
Lebens behilflich sind. Es ist ein Wunder, dass sie uns so lange betrügen konnten.«
Bei weiten Teilen der Bevölkerung besitzt die Psychotherapie anscheinend sogar einen
Heiligenschein, der sie gegen Kritik weitgehend unangreifbar macht. So besteht ein längst etabliertes
Ritual bei kritischen Journalisten darin, die naturwissenschaftlich orientierte» Apparatemedizin «wegen
ihrer» inhumanen «Auswüchse mit empörtem Unterton anzuprangern. Obwohl diese Beschimpfung