Wochenendseminare zur» Nonverbalen Gesprächspsychotherapie «angeboten wurden. Das
offensichtliche Nonsens-Inserat stammte vom Direktor des Psychiatrischen Landeskrankenhauses
Weinsberg, Professor Fritz Reimer, der die oft salbungsvolle Rhetorik der Psychokurpfuscher bloßstellen
wollte. Trotz der eingebauten Logik-Bruchstelle meldeten sich 87 angehende Schildbürger, die sich
entweder» blind «einschrieben oder um nähere Informationen nachsuchten. Ein Frauensozialdienst mit
angeschlossener Werkstatt für Behinderte forderte ausführliche Unterlagen, inklusive Preisliste, an.
Die kanadische Psychologin Tana Dineen hat jede Hoffnung aufgegeben, dass die Zunft der
Psychotherapie jemals von selbst auf eine Korrektur solcher Missstände drängen wird.»Hinter der
menschenfreundlichen Fassade verbirgt sich eine unersättliche und selbstsüchtige Industrie, die mit
>Tatsachen< hausieren geht, die meist unbegründet sind, die eine >Therapie< verabreicht, die viel
Schaden anrichtet, und die zerstörerische Wirkungen auf den sozialen Zusammenhalt hat. Das Fundament
der modernen Psychologie, das kritische Denken, wurde längst aufgegeben und weitgehend durch die
Gier nach Profit und Macht ersetzt.«4 Die klassische Stärke der Psychologie bestand in ihrer Tendenz,
Fragen (zum Beispiel nach den Ursachen von Neurosen) zu stellen. Doch die Psychotherapie hat längst
kapiert, dass Fragen sich nicht lohnen — Antworten lohnen sich. Und da man die richtigen Antworten
nicht besitzt, speist man die fragenden Menschen eben mit abgedroschenen Klischees und Mythen ab. Die
bescheidene Neugier von einst hat arroganter Sicherheit Platz gemacht.
«Ich behaupte«, verkündet Dineen,»dass die Psychologie-Industrie den Menschen heiße Luft
verkauft, dass die psychotherapeutischen Dienstleistungen in vielerlei Beziehung Schwindel sind, und
dass die Psychotherapie das moderne Gegenstück zum Schlangenöl (ein beliebtes Wundermittel früher
amerikanischer Quacksalber) ist. «Weil immer mehr Psycho-Experten vom Vertrieb der heißen Luft
profitieren wollen, muss die Industrie ihre Absatzmärkte und Kundenkreise erweitern. Dieses Ziel lässt
sich nur durch eine künstliche Pathologisierung des Alltags erreichen. Banale Schwächezustände werden
zum» chronischen Müdigkeitssymptom «aufgepeppt, schmerzhafte Erinnerungen lassen unter dem
Namen» posttraumatische Belastungsstörung «einen erhöhten Grad an Dramatik ahnen. Am Ende kann
sich jeder mit der geringsten Beeinträchtigung seines Wohlbefindens in das wachsende Heer der Opfer
einreihen, mit Anspruch auf eine sozialstaatlich finanzierte Seelenkur.
Eine kritische Betrachtung dessen, was die Psychotherapie tatsächlich zu leisten vermag, sei längst
überfällig, fordert der Sozialpsychologe Martin Seligman mit einer ordentlichen Portion Pessimismus.1
«Der Mensch ist so konstruiert, dass Veränderungen häufig unmöglich sind. Wir wissen inzwischen, dass
unsere Persönlichkeit — unsere Intelligenz, unser musikalisches Talent, sogar unsere Religiosität, unser
Gewissen (oder seine Abwesenheit), unsere politische Überzeugung und unser Temperament — sehr viel
mehr Produkt unserer Gene sind, als wir noch vor einem Jahrzehnt geglaubt hätten.«
Von einer derart fatalistisch anmutenden Bescheidenheit wollen die Seelenheiler bislang nichts wissen.
Schon Freud, Pionier und Prophet der kommenden Therapiegesellschaft, hatte sich lebenslang standhaft
geweigert, die biologischen Grenzen seiner psychoanalytischen Höhenflüge auszutesten. Dabei hatte
ausgerechnet Freud im Vorwort zu seiner Literaturstudie» Gradiva «in Bezug auf die Biologie erhebliche
Weitsicht bewiesen:»Mann kann die Natur auch mit der Heugabel austreiben, sie kehrt stets zurück.«
«Nach einer Psychotherapie geht es seelisch Kranken besser als ohne eine Behandlung«
Es gibt einen zentralen Glauben, in dem sich alle konkurrierenden und auch noch so verfeindeten
Schulen der Psychoszene einig sind: Psychotherapie ist besser als keine Psychotherapie. Wenn sich ein
psychisch Kranker in die Obhut eines Seelenklempners begibt, geht es ihm nach einer Weile auf alle Fälle
besser, als wenn er nur Tee getrunken oder Däumchen gedreht hätte. Wie so viele psychologische Mythen
besitzt auch diese Vorstellung auf den ersten Blick eine zwingende Überzeugungskraft.
Um die objektive Wirksamkeit von Psychotherapie zu ermessen, muss man sich zunächst unbedingt
genau vor Augen führen, was man eigentlich als exakten» Beweis «für einen therapeutischen Effekt
gelten lässt. Es gibt vermutlich viele gebildete Zeitgenossen, die quasi aus der Ferne mit der einen oder
anderen psychotherapeutischen Schule sympathisieren, und die allein wegen der Plausibilität des
jeweiligen Gedankengebäudes auf die Wirksamkeit der betreffenden Therapie vertrauen. Empirische
Psychotherapieforscher holen am Ende einer Behandlung bei verschiedenen Quellen Informationen über
die erzielten Veränderungen ein: Bei den Therapeuten, beim Klienten selbst und bei seinen Freunden und
Verwandten.»Die Therapeuten nehmen bei allen Untersuchungen durchgängig die intensivsten
Verbesserungen wahr«, berichtete Tana Dineen.»Etwas weniger rosig ist die Einschätzung der
Behandelten, während Freunde und Verwandte die Veränderungen meist ziemlich distanziert und
unbeeindruckt sehen.«
Das, was die Patienten selbst über ihre» Heilung «zum Besten geben, besitzt in den meisten Fällen
wenig Aussagekraft, hebt die Psychologin Anna Auckenthaler von der Universität Innsbruck hervor.13
«Da erzählen Psychotherapie-Erfahrene im nichts sagenden Psycho-Jargon, dass sie durch die
Psychotherapie >ein Stück weitergekommen< seien, dass ihnen die Psychotherapie >gut getan< habe,
vielleicht auch, dass das Ganze zwar >nicht viel gebracht< habe, aber immerhin eine wichtige Erfahrung<
gewesen sei. «Mit solchen schwammigen Äußerungen drücken sich die Betroffenen vor einer eindeutigen
Abrechnung, moniert der Wissenschaftspublizist Dieter E. Zimmer:»Ganz selten trifft man auf einen, der
klipp und klar sagt: Ich hatte dieses oder jenes Symptom, erst der Psychoanalytiker hat mich davon
befreit. Die große Mehrheit meint, >irgendwie< hätten sie von der Erfahrung vielfältig profitiert — sie
hätte ihnen >eine Menge gebracht<; was sich konkret geändert hat, das allerdings können sie meist nicht
angeben. «Nicht nur, weil es schwer erträglich ist, sich diese Sprache länger anzuhören, verzichtet der
Skeptiker auf weiteres Nachfragen. Die Betroffenen vermitteln meist auch, dass sie da etwas erlebt
hätten, was ganz allein ihnen gehört, und was sie nicht weiter» zerreden «wollen.
Auf keinen Fall dürfen solche diffusen Selbstbekundungen als objektiver Beweis für die Wirksamkeit
von Psychotherapie herangezogen werden. Insbesondere die staatlichen Instanzen, die
Therapiebedürftigen öffentliche Mittel bereitstellen und darüber entscheiden, welche Verfahren von den
«Futtertrögen «der Solidargemeinschaft zehren dürfen, benötigen eine bessere Datenbasis. Denn zum
einen besitzen die Selbstaussagen der» Ehemaligen «nur einen anekdotischen Charakter: Um auch nur
eine halbwegs legitime Einschätzung des therapeutischen Effektes zu erhalten, müssten diese