bringt der Psychologie-Professor Robyn M. Dawes die philosophischen Implikationen dieses Denkens auf
einen Punkt.
Dabei ist bereits die grundlegende Prämisse dieser Weltanschauung nicht wahr: Die Zugehörigkeit zu
einer benachteiligten Gruppe kratzt das Selbstwertgefühl überhaupt nicht an. Zahlreiche Individuen
werden von der dominanten Kultur diskriminiert und zurückgesetzt, weil sie zum Beispiel als Schwule,
Ausländer oder Frauen mit einem Stigma behaftet sind. Auf den ersten Blick erscheint es unabwendbar,
dass das Selbstwertgefühl bei solchen Ressentiments zu Schaden kommt, konstatieren die beiden US-
Psychologinnen Jennifer Crocker und Brenda Major in einer profunden Übersicht.8 Doch die empirischen
Befunde zeichnen nach ihrer Analyse ein völlig anderes Bild. Homosexuelle und Schwarze haben je nach
Studie ein normales oder sogar ein erhöhtes Selbstwertgefühl; aber auch Frauen, Behinderte und andere
«Stiefkinder «der Gesellschaft lassen das erwartete» narzisstische «Defizit vermissen.
Für diesen überraschenden Befund kommen verschiedene Erklärungen in Betracht, schreiben die
Psychologinnen. Einmal haben» Underdogs «die Möglichkeit, unangenehme Entwicklungen in ihrem
Leben auf die Diskriminierung ihrer Gruppe zurückzuführen. Und zwar auch solche unangenehmen
Entwicklungen, für die de facto andere Gründe verantwortlich sind. Ein amerikanischer Schwarzer aus
der Unterschicht, der sich alle möglichen Unbilden mit dem» Rassismus «der Weißen erklärt, schafft sich
damit einen psychologischen» Puffer«, der den Mitgliedern der dominanten Gruppe nicht zu Verfügung
steht. Von diesem Mechanismus zeugt eine Studie an Frauen, die die getürkte Rückmeldung erhielten, sie
hätten bei einem Leistungstest schlecht abgeschnitten. Als der Verdacht geweckt wurde, der
Versuchsleiter trüge» chauvinistische «Züge, gewannen die Frauen schlagartig ihr angeknackstes
Selbstwertgefühl zurück.
Schwarze Probanden machten sich in einem anderen Experiment nur dann etwas aus einem negativen
Feedback, wenn es von einem Experimentator stammte, der ihre Hautfarbe nicht gesehen hatte. Auf der
anderen Seite können benachteiligte Individuen schmeichelhaftes Feedback von anderen künstlich
aufbauschen, indem sie sich dem Eindruck hingeben, dass sie es trotz ihres Handicaps erhalten haben.
Körperlich unattraktive Probandinnen maßen in einer Studie dem Lob über ihre Leistungen die größte
Bedeutung bei, wenn der Versuchsleiter sie deutlich sehen konnte.
Weiterhin können Mitglieder von Randgruppen Kratzer am Ego entschärfen und abfangen, indem sie
ihre eigene Situation ausschließlich an jener von Menschen» ihres Schlages «messen. Um ihre eigene
Situation richtig einzuschätzen, stellen Menschen ständig Vergleiche mit anderen an.»Ist dieser
Porschefahrer auf der anderen Fahrspur am Ende wirklich glücklicher als ich?«»Müsste ich die Prüfung
nicht schaffen, wo doch nicht einmal dieser Holzkopf durchgerasselt ist?«Der Vergleich mit Personen,
mit denen man viele Gemeinsamkeiten hat, besitzt aber nun einmal besonders viel Gewicht. Schwarze
Schulkinder haben das niedrigste Selbstwertgefühl, wenn sie in integrierten Schulen zusammen mit
weißen erzogen werden. Wenn sie» unter sich «bleiben, mindert dies zwar ihre schulischen Leistungen,
doch es bringt ihr Selbstwertgefühl auf Vordermann.
Schließlich besteht noch die Möglichkeit, diejenigen Merkmale abzuwerten, die das» Manko «der
eigenen Gruppe beinhalten, während man den Stärken der eigenen Kaste besonders viel Gewicht
zuschreibt. Es ist zum Beispiel aus Umfragen bekannt, dass Frauen in der Regel Bezahlung und
Karrierechancen für eher unwichtig halten, während sie einer interessanten Tätigkeit und einem guten
Betriebsklima mehr Bedeutung zuordnen.
Eine solche Dynamik kann rasch in einen Teufelskreis ausarten, warnen die beiden Forscherinnen.
Diskriminierte Menschen werten bestimmte wichtige Eigenschaften ab, was dann rückwirkend nur noch
mehr Diskriminierung durch die dominante Kultur provoziert. Außerdem können soziale und
therapeutische Interventionen leicht zurückschlagen: Wenn man die stigmatisierte Gruppe vom Stigma
befreit, nimmt man ihr unter Umständen den lieb gewordenen Puffer weg. Darauf weist eine Studie an
Patienten hin, bei denen eine Gesichtsdeformation chirurgisch korrigiert wurde. Zwar ging der
kosmetische Eingriff mit einer vorübergehenden Erleichterung einher, doch auf lange Sicht blieb ein
schales Gefühl zurück.
Nicht nur, dass die Zugehörigkeit zu einer benachteiligten Gruppe das Selbstwertgefühl ihrer
Mitglieder weitgehend unangetastet lässt. Es gibt auch keinerlei Anzeichen, dass der Besitz eines
niedrigen Selbstwertgefühls gesellschaftliche Missstände und» antisoziales «Verhalten fördert. Das ist das
Fazit, zu dem die bereits erwähnte kalifornische Expertenkommission gelangte, nachdem sie minuziös die
einschlägigen wissenschaftlichen Quellen gesichtet hatte. Punkt für Punkt wurde dem Stellenwert des
Selbstwertgefühls der Boden entzogen, wie der Psychologie-Professor Robyn M. Dawes in seiner
Zusammenstellung unterstreicht:
«Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Verbesserung des Selbstwertgefühls ein wirksames
Mittel wäre, um der Kindesmisshandlung vorzubeugen.«(Originalzitat der Kommission)
Ein niedriges Selbstwertgefühl hat keinen Einfluss darauf, ob Jugendliche ungewollt schwanger
werden oder nicht. Der Glaube war, dass sich selbstunsichere Jugendliche sexuell» gehen lassen«, um ihre
Minderwertigkeitsgefühle zu übertünchen. Sofern überhaupt ein Zusammenhang zwischen
Selbstwertgefühl und Jugendsexualität besteht, dann in der Hinsicht, dass sehr selbstbewusste männliche
Teenager sogar besonders früh und häufig Geschlechtsverkehr haben.
Ein niedriges Selbstwertgefühl hat keinen Einfluss darauf, dass Menschen in eine chronische
Abhängigkeit von der Sozialhilfe geraten. Ein hohes Selbstwertgefühl schützt nicht davor, sozial
abzugleiten.
Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Selbstwertgefühl und der Wahrscheinlichkeit, ein
Verbrechen zu begehen. Wer sich selbst mag, ist dadurch noch lange nicht gegen krumme Touren gefeit.
Schließlich hat das Selbstwertgefühl auch keinen Effekt auf die Alkohol- und Rauschgiftsucht. Es ist
ein großer Irrtum, zu glauben, dass der Süchtige mit dem Schnaps oder Heroin nur die Zweifel an seinem
Ego betäubt.
«Es gibt Möglichkeiten, das Selbstwertgefühl eines Menschen gezielt anzuheben«
Die gleichen Experten, die die Ursache allen Übels in einem lädierten Selbstwertgefühl sehen, haben
eine patente Therapie parat: Man braucht einfach nur das geknickte Ego der betreffenden Person durch
Lob, Anerkennung oder die Bereitstellung von kleinen Erfolgserlebnissen aufzurichten. Doch dieser
Vorstellung liegt ein völlig unrealistisches Bild der menschlichen Natur zugrunde, hebt der Psychologie-
Professor William B. Swann von der University of Texas in Austin hervor.9 Der Mensch setzt jedem
Versuch, sein Selbstbild zu ändern, erheblichen Widerstand entgegen. Auf welchem Stand sich das
Selbstwert-Barometer einer Person auch gerade befinden mag — sie tut alles, um diesen Status zu erhalten,