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Immunsystem, sondern zerrüttet auch das Gedächtnis, macht Nervenzellen im Gehirn kaputt und leistet

vielerlei Krankheiten Vorschub. Doch allmählich setzt sich in der Wissenschaft die Einsicht durch, dass

selbst dauerhafter und nicht kontrollierbarer psychischer Stress zu einer Optimierung der Verknüpfungen

im Nervensystem führen kann.9

Stress wurde in der Forschung fast ausschließlich als eine toxische Attacke auf das Wohlbefinden

angesehen. Dies war die Ära der» Wurstzipfel-Wissenschaft«, wie Professor Dirk Hellhammer vom

Zentrum für Psychobiologie und Psychosomatik an der Universität Trier rekapituliert. Auf der einen Seite

zählte man, wie viele stressige Erfahrungen Menschen machten, auf der anderen wurde etwa die Zahl der

Neuerkrankungen registriert, die durch den Stress entstanden sein sollten. In Wirklichkeit ist die

Beziehung zwischen den» Wurstzipfeln «Stress und Krankheit aber komplex und ungewiss. Von

biologischer Warte ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass ein derart universelles Phänomen wie Stress

überwiegend negative Folgen haben soll, gibt Professor Gerald Hüther von der Psychiatrischen

Universitätsklinik Göttingen zu bedenken: Die Evolution hätte eine solch offensichtliche Schwachstelle

längst ausgemerzt.

Tatsächlich entpuppt sich sogar das Stresshormon Cortisol, der mutmaßliche Schlappmacher, in neuen

Studien zunehmend als Stärkungsmittel. Menschen, durch deren Adern in Stresssituationen mehr Cortisol

zirkuliert, sind zum Beispiel besser gegen Allergien und Asthma gefeit. Das zeigte Angelika Buske-

Kirschbaum von der Universität Trier auf, als sie bei 150 Kindern und Erwachsenen den Hormonpegel

während einer Belastung maß. Fazit: Allergiker hatten nur halb so viel von dem Stoff im Blut. Die gleiche

Sprache spricht der Tierversuch, meint die Psychologin: Ratten, die wegen eines Gendefekts weniger

Cortisol herstellen, ziehen sich viel leichter chronische Entzündungen zu.

Niedrige Cortisolkonzentrationen sind sogar ein Indikator für abartige Reaktionen auf traumatische

Erfahrungen. Zu diesem Schluss kam Rachel Yehuda von der Mount Sinai School of Medicine in New

York, als sie in der Notaufnahme den Hormonspiegel von Unfallopfern ermittelte. Sechs Monate später

hakte sie nach, welche Patienten noch immer von den Erinnerungen an das Trauma überwältigt wurden.

Ergebnis: Just diejenigen, die die geringsten Mengen Cortisol gebildet hatten, litten am Ende unter einer

so genannten posttraumatischen Belastungsreaktion (PTSD).

Für Hellhammer lassen solche Befunde nur eine Folgerung zu:»Menschen, die bei Stress nur wenig

Cortisol produzieren, sind besonders anfällig für krankhafte Reaktionen. «Wenn sie in lebensbedrohliche

Situationen wie Schießereien oder Geiselnahmen geraten, bleibt bei ihnen oft das Grauen, sprich PTSD,

hängen. Und wenn der Stress nicht zu Ende geht, quälen sie sich mit dem Gefühl des totalen

Ausgebranntseins ab.

Aus dieser Sicht gewinnt auch ein schon länger bekannter Befund einen völlig neuen Sinn. Wenn man

Versuchstiere längere Zeit schwerem Stress unterwirft, fallen bestimmte Nervenzellen in» Winterschlaf«.

Sie ziehen einen Teil ihrer Ausläufer zurück und bauen Kontingente ihrer Kontaktstellen (Synapsen) ab.

Das ist gar keine Hirnschädigung, meint Hüther.»Die Hirnstruktur wird plastischer. «Alte Muster werden

aufgeweicht, und es entsteht Platz, um neue Ideen und Verknüpfungen zu bilden.

Erst kürzlich machte in allen Medien die Entdeckung Schlagzeilen, dass ein durch Stress dauerhaft

erhöhter Cortisolspiegel Nervenzellen im Hippocampus, einer für das Gedächtnis wichtigen Hirnstruktur,

zerstört. Doch auch dieser Befund fügt sich nicht in das schlichte Schema vom» bösen «Stresshormon,

warnt die Psychologin Jill Becker von der University of Michigan.10 Wenn man die Cortisolquelle durch

einen chirurgischen Eingriff zum Versiegen bringt, treten kurz nach der Operation ähnliche

Verschleißerscheinungen im Hippocampus auf. Es sieht so aus, als ob das Gehirn eine bestimmte Dosis

von dem Elixier unbedingt haben muss.

«Die Psychosomatik hat einen ganzheitlichen und humanistischen Zugang zur Krankheit«

Ärzte und Psychologen, die nach den seelischen und emotionalen Wurzeln der Krankheit fahnden,

können sich in der Öffentlichkeit in einer Aura erhabener Menschlichkeit suhlen: Sie heben sich

wohltuend von den viel gescholtenen Apparatemedizinern ab, die sich dem Kranken mit der kalten

Mentalität eines Mechanikers nähern und nur nach einem Defekt im» Getriebe «des Körpers suchen.

Psychosomatiker nehmen den Menschen scheinbar in seiner personalen und sozialen» Ganzheit «ernst

und gehen radikal den tiefer liegenden Wurzeln seines Leidens auf den Grund. Es kann auf den ersten

Blick gar keinen Zweifel geben, dass dieser mitfühlende Ansatz zu einem menschenwürdigeren Umgang

mit Krankheit und Genesung führt. Auch dem Wissenschaftspublizisten Dieter E. Zimmer ist der

antimedizinische Habitus der Psychosomatiker aufgestoßen.11»Die Psychoanalyse steht der

Organmedizin, der Schulmedizin, der Apparatemedizin mit Unbehagen oder gar Verachtung gegenüber.«

Es sei eine Welt,»wo man geradezu lüstern ist auf psychische Erklärungen einer Krankheit und normale

medizinische Erklärungen mit Verachtung abtut«.

Doch diese menschenfreundliche Sichtweise geht in Wirklichkeit auf eine bösartige optische

Täuschung zurück. Die psychosomatische Deutung von Krankheiten, so der Tenor vieler kritischer

Analysen, geht in der Realität mit einer diffamierenden und entwürdigenden Haltung gegenüber den

Kranken einher. Sie vertuscht nicht nur die realen Ursachen der Störung, sondern sie macht den

Betroffenen auch nachweislich die Bewältigung ihres Leidens schwer.

Die Verfechter des psychosomatischen Denkens geben sich gerne der Illusion hin, dass ihre

Deutungen allein auf dem Wunsch nach einfühlendem Verstehen der Krankheit basieren. Es wird selten

berücksichtigt, dass es auch hinterhältige und» neurotische «Motive gibt, Kranken eine psychosomatische

Dynamik» anzuhängen«. Eines der wichtigsten Motive ist der» Glaube an die gerechte Welt«.

Sozialpsychologen haben in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Experimenten und Befragungen

nachgewiesen, dass alle Menschen im Hinterkopf die Illusion kultivieren, dass es im Universum gerecht

zugeht und jeder vom Schicksal bekommt, was ihm zusteht.12 Das Glück ist stets» verdient«, und auch an

ihren Unbilden sind die Menschen selber schuld.

Dieser Glaube an eine gerechte Welt ermöglicht es den Menschen, ihrer Umgebimg so zu begegnen,

als sei sie stabil und geordnet, und er stattet sie mit der Überzeugung aus, auch selber gerecht behandelt

zu werden. Wohl nicht zuletzt wegen der Tendenz, den eigenen Lebenslauf als im Großen und Ganzen

gerecht zu rekonstruieren, sind Menschen mit einem besonders ausgeprägten Glauben an eine gerechte

Welt auch allgemein mit ihrem Leben zufriedener.

Die Beobachtung fremder Not kann den Glauben an die übergeordnete Gerechtigkeit in ihren

Grundfesten erschüttern, wenn sie» ungerechtes Leid «ahnen lässt. Wissenschaftler haben festgestellt,

dass Menschen daher eine verblüffende Augenwischerei vornehmen, wenn sie Zeuge von fremdem