Schilderungen gegen die Zahl der Fälle abgewogen werden, in denen die gleiche Therapie versagte oder
der Patient sogar eine Wende zum Schlechteren erfuhr. Die Aussage eines einzelnen» zufriedenen«
Klienten ist aber nicht einmal ein Beweis dafür, dass die Therapie dem Betreffenden wirklich geholfen
hat, geben Watters und Ofshe zu bedenken:»Sie sagt nämlich nichts darüber aus, wie sich der
Betreffende nach dem gleichen Zeitraum ohne eine Therapie gefühlt haben würde.«
Die subjektive Wahrnehmung, dass die Behandlung der Auslöser für die Besserung war, muss deshalb
keineswegs der Realität entsprechen. Daran ändert auch die Befragung einer größeren Zahl von
behandelten Patienten nichts. Bis zum Jahr 1952 fühlten sich alle Psychotherapeuten — besonders jene der
psychoanalytischen Schule — in der Gewissheit wohl, dass es rund zwei Drittel ihrer Patienten am Ende
einer» Redekur «besser ging als vor dieser Intervention. Die Selbstzufriedenheit wurde indes damals jäh
erschüttert, als der Londoner Psychologe Hans Jürgen Eysenck mit einer ketzerischen Beobachtung
aufwartete: Auch unbehandelte Seelenkranke kämen mit der gleichen Häufigkeit allein durch
«Spontanheilungen «wieder auf den Damm.14 Bei seinen statistischen Auswertungen war der Häretiker zu
der Erkenntnis gelangt, dass sich 66 Prozent aller» Psychoneurosen«(ein veralteter Oberbegriff für
seelische Störungen) binnen zwei Jahren von ganz allein in Wohlgefallen auflösten. In einem Zeitraum
von fünf Jahren wären dann sogar 90 Prozent der unbehandelten Neurotiker wieder seelisch gesund.
Diese Neigung zur Spontanremission rückte nicht nur die befreiende Tatsache ins Rampenlicht, dass
die menschliche Psyche über eine außerordentlich tief greifende Fähigkeit zur Selbstheilung verfügt.
Unsere Seele ist offensichtlich mit einem schlagkräftigen psychologischen Immunsystem ausgestattet, das
in unseren Köpfen arbeitet und Neurosen entgegenwirkt, ähnlich dem körperlichen Immunsystem, das
gegen Krankheitserreger zu Felde zieht. Das unerwartet große Potenzial der Selbstheilung hat aber auch
zur Folge, dass man oft der Therapie etwas gutschreibt, was in Wirklichkeit auch ohne sie eingetreten sei.
«Wer bei den ersten Anzeichen einer Erkältung einen Psychotherapeuten aufsuchte und sich vierzehn
Tage dessen Exerzitien unterwürfe, könnte den Eindruck davontragen, dass ihm die Psychotherapie den
Schnupfen ausgetrieben habe«, erläutert Zimmer.
Das wundersame Verschwinden unbehandelter Neurosen ist aber nicht nur ein Produkt der
Selbstheilungskräfte, räumt der Psychologie-Professor Robyn M. Dawes ein10. Dahinter steckt zum Teil
auch ein elementares statistisches Phänomen, das die Wissenschaftler» Regression zur Mitte «nennen. Es
besagt schlicht und einfach, dass extreme und daher unwahrscheinliche Zustände die Tendenz haben, mit
der Zeit abzuflauen und sich in gemäßigte und eher alltägliche zu verwandeln. Querschnittsgelähmte zum
Beispiel gewinnen nach einer gewissen Zeit ein durchschnittliches Wohlbefinden zurück.»Weil die
meisten Menschen eine Therapie beginnen, wenn sie sehr unglücklich sind, werden sie später auf jeden
Fall weniger unglücklich sein — unabhängig von jedem Effekt der Therapie. Der >Regressionseffekt<
kann daher den irreführenden Eindruck erzeugen, dass die Therapie das Unglück beseitigt hat. «Die
«Regression zur Mitte «könnte im Zweifelsfall sogar verschleiern, dass eine Therapie Schaden
angerichtet hat.
Andere Psychologen, die der Psychotherapie freundlicher gegenüberstanden, fanden diese
Schätzungen übertrieben. Spontane Heilungen, so ihr Hauptargument, seien de facto seltener, als man
früher dachte. Dem Anteil an Besserungen soll demnach eine fast gleich große Rate von spontanen
Verschlechterungen gegenüberstehen. Aber auch der Psychologe Allen Bergin, der 1971 die
Fehlerhaftigkeit von Eysencks Berechnungen nachweisen wollte, kam immerhin noch auf eine
Spontanremissionsquote von 30 Prozent.8»Es genügt die Feststellung, dass ein bis zwei Drittel aller
Neurotiker auch ganz ohne Psychotherapie wieder gesunden«, möchte Dieter E. Zimmer diese
Kontroverse diplomatisch schlichten. Der Streit um die Tragweite der Spontanheilung ist jedoch bis heute
nicht beigelegt, und es existieren einige für die Psychotherapie extrem unschmeichelhafte Daten, welche
die orthodoxe Kritik des verstorbenen Londoner Zweiflers Eysenck untermauern.
Noch aufschlussreicher als Einzelstudien sind die Ergebnisse von umfassenden Literaturstudien, deren
Autoren eine Gesamtdarstellung des Forschungsstandes vornehmen. Insbesondere die Übersichtsarbeiten
zur Suchttherapie belegen eindrucksvoll, dass die Wirkung der Psychotherapie nie den Effekt der
Spontanremission übersteigt. Von den Patienten, die sich einer Raucherentzugstherapie unterziehen, sind
zum Beispiel nur 15 bis 20 Prozent nach einem Zeitraum von 12 Monaten» clean«, resümiert eine
Forschergruppe um den amerikanischen Psychologen Michael P. Carey.15 Aber 95 Prozent aller
erfolgreichen Abstinenzler haben den Ausstieg auf eigene Faust und ohne das Zutun eines Therapeuten
geschafft. Deprimierende Quintessenz: Nicht einmal gegen ein so banales Psycholeiden wie die
Nikotinabhängigkeit hat die Psychotherapie auch nur eine einzige wirksame Intervention parat.
Aber auch bei der» großen «Sucht — der nach Heroin — sehen die Zahlen ähnlich düster aus. Nach den
vorliegenden Daten wird ein gutes Drittel aller behandelten Fixer mit dauerhaftem Erfolg von seiner
Sucht befreit. Die Zahlen zeigen zugleich aber auch unmissverständlich, dass der Ausstieg aus der Sucht
genauso vielen Heroinsüchtigen ohne Fremdhilfe durch einen Therapeuten gelingt. Wie der Schweizer
Drogenforscher Harald Klingemann betont, hatten viele der von ihm befragten Selbstheiler die
Behandlung als irrelevant oder sogar als hinderlich für ihre Problembewältigung erlebt.16
Dennoch bestehen die Lobbyisten und Befürworter der Psychotherapie in der öffentlichen Diskussion
heute selbstbewusst darauf, dass die Überlegenheit einer professionellen Behandlung gegenüber deren
Nichtinanspruchnahme (also dem reinen Verstreichen von Zeit) zweifelsfrei abgesichert sei. Sie stützen
sich dabei ausschließlich auf eine größere Zahl von Studien, in denen ein Teil der therapiesuchenden
Klienten in eine Behandlung aufgenommen wurde, während sich die Übrigen mit dem Eintrag in eine
Warteliste abfinden mussten. Nach Abschluss der Therapie wurde dann die psychische Verfassung der
beiden Gruppen ausgeleuchtet.
Es ist zwar zutreffend, dass die behandelten Klienten bei den meisten — wenn auch nicht bei allen –
Vergleichen (etwas) besser abschneiden. Das ist übrigens auch die einzige empirische Basis, mit der die
Psychotherapie heute ihren Anspruch auf Heilwirkung belegen kann. Aber die Gegenüberstellung einer
behandelten Gruppe und einer Wartelistegruppe entspricht überhaupt nicht den modernen methodischen
Anforderungen, und sie lässt überhaupt keinen Rückschluss auf die therapeutische Wirksamkeit einer
Behandlung zu, kritisiert der renommierte New Yorker Psychiater Donald F. Klein, einer der
bedeutendsten Pioniere der modernen Psychopharmakologie.17»Die Klienten, deren Wunsch nach
Therapie erfüllt wird, entwickeln vermutlich eine sehr starke Erwartung, geheilt zu werden, während die