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Missgeschick und Unglück werden: Sie werten die Opfer dieser Schicksalsschläge charakterlich ab. Die

Schlussfolgerung, dass die Betroffenen sich ihr Leid zumindest teilweise selbst» eingebrockt «haben,

stellt die lädierte Fairnessnorm wieder her.

Auch bei einer psychosomatischen Deutung schwingt immer die latente Unterstellung mit, dass die

Kranken sich selbst in ihre Lage hineinmanövriert haben.»Viele Patienten und ihre Angehörigen, die von

einer solchen Krankheit betroffen sind, leiden unter dem Verdacht, dass mit ihrem Charakter oder der Art,

wie sie ihr Leben geführt haben, etwas nicht in Ordnung ist«, gibt der Harvard-Mediziner Steven E.

Hyman zu bedenken.1 Manche Krankheiten, die als psychosomatisch gelten, verführen besonders dazu,

die Verantwortung auf die Psyche des Opfers abzuwälzen, weil das widerwärtige Krankheitsbild eine

zersetzende Wirkung auf die Illusion der gerechten Welt ausübt. So hat Krebs viel mit einem Fluch

gemeinsam, weil er attraktive Organe wie Haut oder Brüste der Abscheulichkeit preisgibt, erklärt Robert

Dantzer.

Wenn man dem» Krebscharakter «die Schuld für sein Unheil zuschiebt, kann man zwei Fliegen mit

einer Klappe erledigen. Zum einen kommt der Glaube an die gerechte Welt ins Lot, weil der Alptraum

Krebs offenbar stets Menschen mit einer radikal falschen Lebenseinstellung erwischt. Es ist schon sehr

auffällig, dass es sich bei den Wesensmerkmalen, die angeblich psychosomatische Krankheiten

begünstigen, immer um Eigenschaften handelt, die in der Psychoszene und bei kritischen Intellektuellen

zutiefst verpönt sind. Die Krebspersönlichkeit, die Kummer und Ärger herunterschluckt, sich unauffällig

gibt und nach außen die Maske der Normalität aufsetzt, ist der absolute Antityp zur offenen und

lebenshungrigen Psychoszene. Und dass das Zerrbild vom gehetzten und arbeitswütigen

«Infarktcharakter «ausgerechnet in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern aufblühte, als der Ethos

der Leistungsgesellschaft in Misskredit geriet, kann wohl kaum als Zufall bezeichnet werden.

Eine Weile lang war in der Psychosomatik der Glaube gang und gäbe, dass alle psychosomatischen

Krankheiten durch einen Persönlichkeitsdefekt verursacht würden, der als» Alexithymie«

(Gefühlsblindheit) bekannt wurde. Menschen mit diesem Mangel sind unfähig, ihre Gefühle

auszudrücken und zu benennen, und ihr dumpfes Phantasieleben wird von der Gegenwart und von

konkreten Gegenständen beherrscht. Es ist schon ein geradezu ästhetischer Gedanke, dass sich die

Unfähigkeit zum Träumen und Fühlen in der Metapher einer seelischkörperlichen Krankheit entlädt.

Sorgfältige Forschungsarbeiten haben inzwischen klar belegt, dass Alexithymie keinen besonderen Bezug

zu psychosomatischen Krankheiten besitzt, und es ist verräterisch still um den Begriff geworden. 13 Sehr

wahrscheinlich lag der Reiz des Konzeptes allein darin, dass in der Psychoszene ein solcher

Gefühlsmangel Abscheu erregt.

Wichtig ist außerdem, dass die Opfer von mutmaßlich psychosomatischen Störungen durch diese

Deutung zu einem untauglichen Umgang mit ihrer Krankheit verleitet werden. Opfer einer schweren

Krankheit sind immer stark motiviert, ihrem Leiden einen Sinn zu verleihen, indem sie ihm eine Ursache

zuschreiben. Gerade unerwünschte und schreckliche Erfahrungen fordern nämlich fast automatisch die

Frage» Warum gerade ich?«heraus. Eine psychosomatische Antwort auf diese Frage ruft aber offenbar

erhebliche Probleme hervor. Das hat etwa der Würzburger Psychologe Dr. Hermann Faller in einer Studie

an 120 Personen aufgedeckt, die an einem neu diagnostizierten Bronchialkarzinom litten.5

Das Ergebnis der Erhebung ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Just die Untergruppe der

Patienten, die ihren Tumor auf seelische Ursachen zurückführte, kam am schlechtesten mit ihrer

Krankheit zurecht und zeigte die ungünstigste Form der Bewältigung. Die Betreffenden waren emotional

sehr viel belasteter und depressiver und hatten viel weniger Hoffnung für ihre Zukunft. Stattdessen war

ihr ganzes Sinnen und Trachten durch Hader mit dem Schicksal und zwanghaftes Grübeln über ihr

verpfuschtes Leben durchsetzt. Dabei machte es keinen Unterschied, was genau die Patienten unter

seelischen Ursachen verstanden: eine schwere Kindheit, einschließlich familiärer Probleme und Stress,

oder» Lücken «in der eigenen Persönlichkeit wie unterdrückte Gefühle, Pessimismus und mangelnde

Durchsetzungsfähigkeit.

Diese Befunde sind umso bedeutsamer, als sie mit Beobachtungen an anderen Patientengruppen

übereinstimmen, geben die Forscher zu bedenken. Der Schluss auf seelische Ursachen ist danach auch

beim Herzinfarkt, bei der Niereninsuffizienz, bei multipler Sklerose, bei Morbus Crohn und Myasthenia

gravis kontraproduktiv und leistet einer unvorteilhaften Krankheitsbewältigung Vorschub. Wer seine

«psychosomatische «Krankheit auf eine äußere Triebfeder wie Stress zurückführt, schadet sich genauso

wie jemand, der an eine innere Verursachung wie ein» verfehltes Leben «glaubt, betont der Psychologe

Michael Myrtek.»Stressattributionen und andere äußere Ursachenzuschreibungen haben zwar den

Vorteil, den Patienten von der eigenen Schuldzuweisung zu entlasten, können aber die subjektive

Relevanz anderer Risikofaktoren (Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht) schmälern und somit die

Rehabilitation behindern.«

Die psychosomatische Medizin muss sich nach Ansicht der Autoren davor hüten, Charakterzüge von

Patienten in die Vergangenheit zurückzudatieren und als Krankheitsursachen zu interpretieren. Vielleicht

sei das» wissenschaftliche «Konzept der Krebspersönlichkeit de facto nur der Reflex einer schlechten

Krankheitsbewältigung, das irgendwie von den Patienten auf die Medizin übergesprungen sei. Der junge

Schweizer Lehrer Fritz Zorn, der später an einer bösartigen Geschwulst verstarb, hat mit seinem

autobiographischen Buch» Mars «ein erschütterndes Mahnmal für diese Gefahr gesetzt.14 In dem

ergreifenden Pamphlet macht der Autor sein ungelebtes Leben und die Gefühlskälte seiner Erziehung für

den Tumor verantwortlich. Statt das todbringende Symptom beim ersten Verdacht mit radikal

chirurgischen Methoden zu bekämpfen, erklärte er es (unter Anleitung durch einen Psychotherapeuten) zu

einer Metapher, die es zu verstehen gelte.»Obwohl ich noch nicht wusste, dass ich Krebs hatte, stellte ich

intuitiv bereits die richtige Diagnose, denn ich betrachtete den Tumor als >verschluckte Tränen.«

1 Hyman, Steven E.: Another one bites the dust. An infectious origin for peptic ulcers. In: Harvard Review of Psychiatry, Vol. 1 (1994), S. 294–295.

2 Myrtek, Michaeclass="underline" Gesunde Kranke — kranke Gesunde. Psychophysiologie des Krankheitsverhaltens. Huber Verlag, Bern/Göttingen 1998.

3 Dantzer, Robert: The psychosomatic delusion. Why the mind is not the source of all our ills. Free Press, New York 1993.

4 Myrtek, Michaeclass="underline" Psychophysiologische Reaktivität, Stress, Typ-A-Verhalten und Feindseligkeit als Risikofaktoren der koronaren Herzkrankheit.

In: Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin, Bd. 20 (1999), S. 89-119.

5 Faller, H., Lang, H., Schilling, S.: Kausalattribution» Krebspersönlichkeit«— ein Ausdruck maladaptiver Krankheitsverarbeitung?