amerikanischen Psychologenverbandes in San Francisco, war in Wahrheit ein» hinterlistig eingefädeltes
Betrugsmanöver«.
Die Beweise, die das abgekartete Spiel auffliegen ließen, hatte der Seelenforscher beim Aufräumen
seines Büros im John Jay College of Criminal Justice gefunden — in Gestalt von zwei verstaubten
Tonbandkassetten. Rieber hatte sie 1972 von einer inzwischen verstorbenen Bekannten, der
Wissenschaftsjournalistin Flora Schreiber, erhalten, die damals beim populären Magazin» Science
Digest «für die Psycho-Berichterstatrung zuständig war. Die Kassetten enthielten unter anderem
Mitschnitte von der Therapie der Sybil, die Frau Schreiber von Sybils Therapeutin, der
Psychoanalytikerin Cornelia Wilbur, erhalten hatte. Die Journalistin, die wenig später mit dem
vermeintlichen Tatsachenroman» Sybil «einen spektakulären Hit landen sollte, hatte sich damals noch
vergeblich bemüht, den gemeinsam mit der Therapeutin Wilbur verfassten Therapiebericht in einem
wissenschaftlichen Fachblatt unterzubringen.
Da alle Platzierungsversuche fehlschlugen, versuchte die Autorin ihren Bekannten Rieber
einzuspannen. Sie spielte ihm 12 Tonbandkassetten mit dem Hinweis zu, er könne sie vermutlich sehr gut
für sein gerade laufendes Forschungsprojekt über das Sprechen und Schweigen von Geisteskranken
benutzen. Doch Rieber fiel nicht auf die Finte herein.»Die beiden glaubten, mich würden die
therapeutischen Interviews so faszinieren, dass ich mich für eine Veröffentlichung einsetze. «Er habe
danach in die Bänder hineingehört; doch die Aufnahmequalität sei miserabel, das Material deshalb für
seine Forschung nicht verwendbar gewesen. Daraufhin habe er die Kassetten achtlos in eine Schublade
gelegt und sie» dann ganz einfach vergessen«. Erst im Jahr davor, anlässlich einer erneuten
Expertendiskussion über den Fall Sybil, fielen dem Psychologielehrer die Tonbänder wieder ein.»Ich
begann zu kramen, lange Zeit erfolglos, bis ich vor einigen Monaten zwei der Kassetten fand.«
Die Bänder enthielten überwiegend Gesprächsprotokolle zwischen der Patientin mit dem Pseudonym
Sybil Isabel Dorsett und ihrer Therapeutin, aber auch, wie der jüngste Fund belegt, Unterhaltungen
zwischen Therapeutin und Autorin. Beim Anhören war Rieber» total geschockt«über den Inhalt: Es
waren die» bislang wohl wichtigsten Informationen, die den rätselhaften Paradefall der Sybil Isabel
Dorsett als ein riesiges Lügengebäude entlarvten«. Auf den jeweils einstundigen Kassetten schmiedeten
die Therapeutin Wilbur und die Autorin Schreiber schamlos Pläne, um den Fall Sybil zu einer
gigantischen Sensation zu puschen.»Eindeutig «dokumentierten die Gespräche, so Rieber, dass» der
berühmteste Fall eines Patienten mit multipler Persönlichkeit eine betrügerische Konstruktion ist«.
Die 31-jährige Sybil, die in Wirklichkeit Shirley Mason hieß, war eine hochintelligente und gebildete
Persönlichkeit. Wegen emotionaler Probleme und eines plötzlichen» Nervenzusammenbruchs «hatte sie
sich in die Obhut der Therapeutin Wilbur begeben. Dass Wilburs Klientin Sybil verhaltensgestört war, ist
laut Rieber» sehr wahrscheinlich«; eine multiple Persönlichkeit sei sie aber» bestimmt nicht «gewesen.
Denn dieses perfide Schauspiel hatten einzig und allein die beiden» Verschwörerinnen «aus ihr
hervorgelockt. Cornelia Wilbur verstand es meisterlich, ihre Patientin zu manipulieren. Sie kitzelte zum
Beispiel aus Sybil nach der angeblichen Verabreichung eines» Wahrheitsserums «Mitteilungen über
einzelne» Persönlichkeiten «heraus. Es war Wilbur und nicht die Patientin, die diesen» Persönlichkeiten«
Namen gab und sie mit Eigenarten ausschmückte.
Und es waren eindrucksvolle Phantom-Egos, die bei dieser getürkten Revue zutage traten. Jedes
dieser Sybil-Ichs hatte einen eigenen Namen, zeigte besondere Vorlieben und Fähigkeiten, sogar
verschiedene Arten, zu gehen, sich auszudrücken und zu sprechen.»Peggy «etwa war, wie Sybil zu
Protokoll gab,»selbstbewusst «und» begeisterungsfähig«,»Marcia «eher» depressiv «veranlagt,
«Vanessa «hingegen» lebhaft«. Und es gab da auch noch Mike und Sid, zwei Teenager männlichen
Geschlechts, die sich gleichfalls im Körper der jungen Frau aufhielten.
Die Psychoanalytikerin flößte ihrer Klientin auch vorsätzlich die» Erinnerung «an jene» Urszene«
ein, die in der Psychoanalyse von Sigmund Freud einen so hohen Stellenwert besitzt. Sybil glaubte
schließlich fest daran, sie habe als Kind im elterlichen Schlafzimmer übernachtet und ihren Eltern beim
Sex zugesehen. Skrupellos nutzte die Psychiaterin Wilbur ihre Machtposition als Therapeutin aus. Durch
suggestive Fragen brachte sie Sybil dazu, sich an nicht existierende Vorkommnisse zu erinnern.
Irgendwann kamen die beiden Komplizinnen bei der Buchplanung auf die Idee, Sybils Mutter müsse
aus dramaturgischen Gründen als» hinterhältig, schlecht und gemein «geschildert werden. Flugs setzten
sie der Patientin den Floh ins Ohr, sie habe als kleines Kind unvorstellbare Misshandlungen durch ihre
Mutter erleiden müssen. Um Sybils phantastisch anmutender Personenvielfalt einen weiteren Kick zu
geben, beschlossen Wilbur und Schreiber, dass Sybil» ihre Mutter hassen muss, je bitterer, desto besser«.
Es bereitete ihnen anscheinend keine Probleme, Sybil zu dem entsprechenden Zugeständnis zu
provozieren.
Peter J. Swales, der Historiker, der als Erster die wahre Identität der Sybil enthüllte, hat in den letzten
Jahren viele Verwandte und ehemalige Bekannte von Shirley Mason nach der Kindheit der
Vorzeigepatientin befragt. Die beiden Hauptbetroffenen, Sybil und ihre Therapeutin, waren inzwischen
tot. Das Ergebnis seiner Ermittlungen über den angeblichen Missbrauch bringt er folgendermaßen auf den
Punkt:»Die Beweise sprechen sehr stark dafür, dass sich die schlimmen Vorfälle nie ereignet haben.«5
«Multiple Persönlichkeiten werden durch Misshandlung in der Kindheit hervorgerufen«
Eines der erfundenen Details aus der Therapie der Sybil ist heute überhaupt nicht mehr aus der
Irrlehre der MPS-Gläubigen wegzudenken. Das ist die unerschütterliche Gewissheit, dass sich die
Abspaltung der Persönlichkeiten immer auf die Erfahrung von Misshandlung und/oder sexuellem
Missbrauch in der Kindheit zurückführen lässt. Die Patienten selbst haben zu Beginn der Behandlung
nicht die geringste Ahnung von ihrer traumatischen Vorgeschichte: Die mutmaßlich» verdrängte«
Erinnerung an ihr furchtbares Martyrium wird erst im Verlauf einer langen Therapie, oft unter Einsatz von
Hypnose und Beruhigungsmitteln,»aufgedeckt«. Bei dem MPS-Urtyp Sybil beispielsweise nahmen die
Enthüllungen elf Jahre mit insgesamt 2354 Sitzungen in Wilburs Praxis an der New Yorker Park Avenue
in Anspruch.
Nach und nach kommen dann mit den Spaltpersönlichkeiten auch die angeblich verschütteten
Erinnerungen an die schreckliche Kindheit ans Tageslicht. Nachdem die MPS-Diagnose gestellt worden
war, so ergab eine Untersuchung des National Institute of Mental Health, entsannen sich 97 Prozent aller
Patienten an Missbrauchserfahrungen. Die Therapeuten geben sich in dieser Szene selten mit profanen
Traumata wie einem lieblosen und feindseligen Elternhaus zufrieden. Damit das ganze Drama auch die