dürfen und welche nicht. Geraten die Nervenzellen (Neuronen) plötzlich in Existenznot — das zeigten
Versuche an Ratten —, fallen hemmende Nervenaktivitäten weg. Ungebremst drängen Bilder aus dem
Gedächtnis ins Bewusstsein. Das Hirn — immer auf der Suche nach Sinn in den angelieferten
Informationen — strickt aus diesem Chaos eine Rückschau, den» Lebensfilm«.
Halt der Sauerstoffmangel an, so Blackmores These für die Nahtod-Erlebnisse, entwickelt sich eine
allgemeine Nervenenthemmung. Sie selbst hat mit diesem Ansatz im Computermodell das Licht am Ende
des Tunnels simulieren können. Die Tunnelvision hängt danach höchstwahrscheinlich mit dem
allgemeinen Bauplan der primären Sehrinde, der Anlaufstelle für optische Reize im Gehirn zusammen.
«Es gibt dort sehr viele Nervenzellen, die das Zentrum des Blickfeldes repräsentieren, aber sehr wenige
Repräsentanten für die Randgebiete. «Wenn allmählich die hemmenden Neuronen — die
überdurchschnittlich viel Energie und Sauerstoff benötigen — den Geist aufgeben, nehmen unkontrollierte
Nervenentladungen überhand. Dieses Trommelfeuer der Optik-Neuronen wird jedoch vom Bewusstsein
als» Licht «interpretiert.»Weil es im Zentrum des Gesichtsfeldes mehr aktive Nervenzellen gibt, kommt
der Eindruck vom Licht am Ende eines Tunnels zustande. «Je mehr die entfesselten Entladungen
zunehmen, umso größer wird der Anteil des Blickfeldes, den das Licht in Anspruch nimmt: So entsteht
die Illusion, auf das Licht zuzurasen.
Eine Untersuchung am Berliner Rudolf-Virchow-Universitätsklinikum bestätigte, dass
Sauerstoffmangel die einschlägigen visuellen Manifestationen provoziert. Mediziner ließen 42
Jugendliche bis zu 22 Sekunden durch Hyperventilation und anschließendes ruckartiges Pressen des
Brustkorbs ohnmächtig werden. So lösten die Forscher eine» akute globale zerebrale Hypoxie «aus. Die
Folge: Visionen und Vorstellungen suchten die Probanden heim, die verblüffende Ähnlichkeit mit
Nahtod-Erfahrungen aufwiesen.
Ähnliche Beobachtungen haben amerikanische Militärärzte bei Kampfpiloten gemacht, die im
Training ungewöhnlich starke Erdanziehungskräfte durchstehen mussten, welche ihr Gehirn des
Sauerstoffs beraubten.5 Sie wurden in der Zentrifuge von einem Gefühl intensiven Friedens übermannt,
halluzinierten, wie sie durch einen Tunnel auf ein Licht zurasten, und traten in der gewohnten Manier aus
ihrem Körper heraus.
Es gibt im Übrigen starke Verdachtsmomente dafür, dass auch die Out-of-body-Erfahrung in
Todesnähe lediglich einen halluzinatorischen Charakter besitzt: Im Operationssaal des Hartford-
Hospitals in Connecticut haben amerikanische Forscher ein elektronisches Display angebracht, das aus
der Position des Patienten nicht wahrgenommen werden kann.12 Auf dem Schirm werden in zufälliger
Reihenfolge bestimmte Sätze dargeboten. Wann immer eine Person über ein Nahtod-Erlebnis berichtete,
wurde sie aufgefordert, den Inhalt des Displays zu rekapitulieren, der aus der Vogelperspektive leicht zu
überschauen war.»Die Ergebnisse lieferten keinerlei Anhaltspunkte, dass auch nur ein einziger Patient in
Todesnähe Informationen von dem Display aufnehmen konnte.«
«Nahtod-Erfahrungen lösen bei den Betroffenen eine einzigartige Läuterung der Persönlichkeit
aus«
Der Realitätsgehalt der Nahtod-Erfahrung wird in der Literatur sehr häufig mit dem Hinweis gestützt,
dass sie bei den Betroffenen eine außergewöhnliche seelische Läuterung auslöst. Raymond Moody sagt,
in mehr als 20 Jahren psychiatrischen Umgangs mit Todesnähe-Erfahrenen sei ihm niemand begegnet,
den dieses Erlebnis nicht tief greifend verändert habe, und zwar positiv. In der Tat sind häufig sehr
heilsame Persönlichkeitsveränderungen festzustellen, die das (bekanntlich desolate) Ergebnis
psychotherapeutischer Bemühungen weit übertreffen.
Die innere Religiosität solcher Menschen beispielsweise nimmt zu — wenn auch nicht unbedingt deren
kirchliche Bindung. Ihr fürsorgliches Interesse an den Mitmenschen wird wesentlich intensiver, zugleich
aber auch ihr eigenes Lebensgefühl und ihre Wertschätzung der verbleibenden Lebenszeit. So gut wie alle
diese Menschen sagen, sie seien nun ganz sicher, dass es noch eine andere als die irdische Existenz nach
dem Tod gebe. Und sie alle versichern, dass sie die Angst vor dem Tod, vor dem Ende ihrer physischen
Existenz, völlig verloren hätten. Und wer den Tod nicht mehr fürchtet, der kann das Leben viel gelassener
genießen.
Doch auch wenn diese Veränderungen wirklich real sind — sie müssen nicht das Resultat einer
authentischen transzendentalen Erfahrung sein, gibt der amerikanische Philosoph Keith Augustine zu
bedenken.12 Bei einer Langzeituntersuchung in den USA stellte sich heraus, dass sich derartige
Metamorphosen auch bei Menschen ereigneten, die dem Tode nahe kamen, ohne jedoch eine Nahtod-
Erfahrung durchzumachen.»Die Persönlichkeitsveränderungen kommen offenbar allein schon durch die
Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit zustande, nicht erst durch Todesnähe-Erfahrungen.«
Für den Psychologen Persinger stellt sich sogar die Frage, ob nicht viele der durch NDEs ausgelösten
Veränderungen auf einer Schädigung des Gehirns basieren.»Die meisten Reize, die Nahtod-Erfahrungen
heraufbeschwören, gehen auch mit einem schleichenden Verlust von Nervenzellen einher. «Von diesem
Verlust sind besonders die Neuronen des Hippocampus betroffen. Wenn in diesem Zentrum Nervenzellen
sterben, treten jedoch sehr schnell» neuroplastische «Veränderungen auf: Die verbleibenden Neuronen
bilden neue Ausläufer und nehmen Kontakt mit bisher nicht kontaktierten Ansprechpartnern auf. Diese
Umgestaltungsprozesse könnten sich nach außen als eine Verwandlung der Persönlichkeit bemerkbar
machen.
Dabei müssen solche Verwandlungen keineswegs immer vorteilhaft sein, räumt der amerikanische
Religionswissenschaftler J. Isamu Yamamoto ein.13 Viele Menschen kommen nach einer Todesnähe-
Erfahrung auch ins Straucheln und handeln sich seelische Störungen ein. Es wird für sie immer
schwieriger, eine Beziehung oder die Anforderungen ihres Berufs durchzustehen. Oft resultieren daraus
familiäre Probleme, eine Scheidung oder der Verlust des Arbeitsplatzes.»Man kann auch sagen, dass
NDEs für viele verpfuschte Existenzen verantwortlich sind«— eine Sehweise, die sich erheblich von dem
rosigen Bild unterscheidet, das Leute wie Moody und Ring gezeichnet haben.
1 Persinger, Michaeclass="underline" Near-death experiences and ecstasy: a product of the Organization of the human brain? In: Della Sala, Sergio
(Hg.):Mind myths. Exploring popular assumptions about the mind and brain. Verlag John Wiley, Chichester et al. 1999.
2 Blackmore, Susan J.: Dying to live: Near-death experiences, Prometheus Books, Buffalo 1993.
3 «Einmal Hölle und zurück«. In: Die Zeit, Nr. 29/1999.
4 Roberts, Glenn/Owen, John: The Near-death experience. In: British Journal of Psychiatry, Bd. 153 (1988), S. 607–617.
5 «Survival Conference: Near-death experience. «http: //www.esalenctr.org/sur/sur98ndes.html