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Glauben an die brachliegenden 90 Prozent überein. Nur waren die» Profis «optimistischer, was die

Chance betraf, die stillen Reserven auszuschöpfen. Damit lagen sie möglicherweise noch weiter von der

Realität entfernt. Bei der Bekämpfung von Mythen und Irrlehren leisten die Universitäten offenbar einen

schlechten Dienst.

Für die Anhänger paranormaler Phänomene ist der Mythos natürlich ein gefundenes Fressen, weil

sich das unausgelotete Terrain unter der Schädeldecke so leicht mit übersinnlichem Brimborium füllen

lässt: Wenn es uns nur gelänge, die brachliegenden Ressourcen zu entfesseln, dann würden gewiss

außerordentliche Anlagen wie Hellsehen, Telepathie oder Psychokinese freigesetzt. Das ist eine

Erkenntnis, mit der sich auch Uri Geller, der berühmte Gabelverbieger, schmückt:»Unser Geist ist zu

herausragenden Dingen fähig, die wir gar nicht ausschöpfen. Wir arbeiten nur mit herabgesetzter

Leistungsfähigkeit, weil unser Gehirn 90 Prozent seiner Potenziale ungenutzt liegen lässt. «Auch andere

zwielichtige Gruppen wie die Neurolinguistischen Programmierer, die Anhänger des Superlearning oder

der Transzendentalen Meditation schlagen gerne aus dem Mythos Kapital. Alle Rattenfänger, die eine

Erweiterung des Bewusstseins verheißen, sichern heute ihren Schäfchen die Erweckung ihrer

schlummernden Neuronen zu.

«Es ist vorteilhaft, möglichst viel Gehirnkapazität zu aktivieren«

Dem Mythos von den ungenutzten 90 Prozent Hirnkapazität liegt im Kern der unzuverlässige

Vergleich unseres Denkapparates mit einem Automotor oder einem anderen technischen Gerät zugrunde:

Die Leistungsfähigkeit ist am größten, wenn die Maschine am meisten» Saft «verbrät. Die irreführende

Schlussfolgerung lautet: Wir können am besten denken und am klügsten handeln, wenn sich das

Räderwerk unseres Gehirns auf maximalen Touren dreht. Doch diese Analogie geht radikal am Wesen

unseres Zentralrechners vorbei. Das Gehirn funktioniert in entscheidenden Punkten nach dem Imperativ

«weniger ist mehr«, und seine Ökonomie ist eindeutig auf Energiesparen getrimmt.

Die naivste Version des 10-Prozent-Mythos besagt, dass unser Zentralnervensystem hinter seinen

Möglichkeiten zurückbleibt, weil immer nur ein kleiner Bruchteil aller Nervenzellen tätig ist. Doch diese

Tatsache erweist sich als Segen, weil die gleichzeitige Aktivität aller Neuronen mit einem epileptischen

Krampfanfall gleich bedeutend ist: Wenn alle Neuronen in einem Takt feuern, wird das Gehirn von einer

elektrischen Flutwelle übermannt, die jede Fähigkeit zum koordinierten Denken und Handeln zunichte

macht. Um solch ein Inferno zu unterbinden, übt ohnehin gut die Hälfte aller Neuronen eine hemmende

Wirkung aus.

In der gehobenen Ausführung des Mythos liegen die Potenziale des Gehirns brach, weil das Gros der

Neuronen» eine schlechte Arbeitsmoral «hat und untätig im Schädel herumliegt. Nach dieser Vorstellung

läuft mehr Gehirnaktivität auf» besseres «Denken hinaus. Detlef Linke, Hirnforscher an der Universität

Bonn, weist jedoch darauf hin, dass unsere intellektuelle Leistung oft darin besteht, viele

Einzelerfahrungen in einem» Superzeichen «zusammenzufassen — Abstraktion macht das Denken

ökonomischer.1 Die höchsten Intelligenzleistungen erbringen just die veritablen» Schwachstromgehirne«,

während die weniger gescheiten Zentralorgane mit» Starkstromtechnik «arbeiten und jede Menge

elektrische Energie uneffektiv verpulvern.

Das 3-Pfund-Universum Gehirn, das etwa 2 Prozent des Körpergewichtes ausmacht, verbraucht

zirka 20 Prozent der Gesamtenergie, die es sich ausschließlich in Gestalt von Traubenzucker (Glukose) zu

Gemüte führt. Nun kann man sich die Tätigkeit des Verstandes durchaus als ein Verschieben von

Informationseinheiten (Bits) oder ein» Hantieren im Vorstellungsraum«(Konrad Lorenz) begreiflich

machen. Wenn der nahe liegende Vergleich mit der körperlichen Betätigung nicht hinkt, bedingt mehr

Denken unweigerlich einen höheren Energieverbrauch. Mit dem Zauberstab der Analogie könnte man

allerdings ebenso gut auf das Gegenbeispiel der modernen Personalcomputer hinweisen, die viel mehr

Rechenkapazität und Speicher besitzen als ein altes» Elektronengehirn«, obwohl sie viel weniger Strom

benötigen.

Seitdem die neuen bildgebenden Verfahren, wie etwa die Positronen-Emissions-Tomographie (PET),

zu Verfügung stehen, die genau Aufschluss geben, wo und wie viel Energie im Gehirn verbraucht wird,

sind die Forscher vom» Dampfmaschinendenken «abgekommen: Mehrere neue Untersuchungen führten

übereinstimmend zu dem Schluss, dass die hellsten Köpfe, die bestimmte Denksportaufgaben am

schnellsten lösen konnten, den niedrigsten Energieumsatz im Gehirn aufwiesen. Andersherum

ausgedrückt: Diejenigen, die mit den Aufgaben schlecht zurechtkamen, verlangten ihren kleinen grauen

Zellen dennoch eine höhere elektrische Leistung ab.

Wahrscheinlich schlagen» kleine Leuchten «sich mit ineffektiveren Schaltkreisen in ihrem Gehirn

herum, vermuten die Wissenschaftler. Das kann damit zusammenhängen, dass ihre einzelnen

Nervenzellen generell mehr» Saft «benötigen. Unter Umständen mobilisieren sie aber auch mehr oder

aber die falschen, für das Problem ungeeigneten Neuronen. Sie haben quasi den Verstand nicht am

«rechten Fleck«, vielleicht, weil ihnen der rechte Fleck fehlt, eventuell aber auch nur deshalb, weil der

Zugriff nicht hinhaut. Tatsächlich weisen zwei Gruppen geistig Behinderter — junge Patienten mit Down-

Syndrom und erwachsene Autisten — einen erhöhten Glukoseumsatz im Gehirn auf. Kurz nach der

Adoleszenz, wenn die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung stark anwächst, geht bei Gesunden der

Kraftstoffbedarf des Gehirns rapide zurück.

Je besser Menschen bestimmte geistige oder motorische Aufgaben beherrschen lernen, umso weniger

«Hirnschmalz «verlangt ihnen die Herausforderung ab. Das haben amerikanische Hirnforscher am

Beispiel des legendären Computerspiels» Tetris «aufgezeigt. Blutige Anfänger, die nur mühsam mit den

herunterfallenden Klötzchen jonglieren konnten, strengten dabei ein riesiges Netz weit verstreuter

Nervenschaltkreise an. In dem Augenblick, in dem sie das Spiel aus dem Effeff beherrschten, verringerte

sich der Aktivierungsherd auf ein Minimum. Das neue» ohmsche Gesetz«— Intelligenz ist geistige

Leistung bei geringstmöglichem Energieaufwand — wird im Übrigen auch durch ein Experiment mit dem

Hirnstromwellenbild (EEG) gestützt. Probanden, die komplizierte geistige Aufgaben am schnellsten

lösten, hatten die geringste Beschleunigung ihrer Hirnstromwellen nötig. Die höchste Leistung besteht

also darin, sich das Schwierige möglichst einfach zu machen.

Man könnte denken, dass auch unser Gehirn — so wie ein Computer — ein Maximum an

Speicherplatz benötigt, um seine Erinnerungen abzulegen. Wenn man nur genügend Gehirnkapazität

mobilisiert, kann man sich demnach ein» fotografisches «Gedächtnis schaffen. Doch auch beim Behalten

des Gelernten liegt das Erfolgsrezept im Prinzip Sparsamkeit. Amerikanische Forscher haben

beispielsweise mit PET Gehirn-Aufnahmen von Probanden» geschossen«, denen man vorher eine Reihe

von längeren Wörtern präsentiert hatte. Als Nächstes zeigte man ihnen kurze Wortfragmente und forderte