sie auf, anzugeben, welche dieser Fragmente aus den ursprünglichen Wörtern stammten. Während dieser
Aufgabe registrierte das PET-Gerat» heiße Punkte «in der winzigen» Archivstelle «Hippocampus: Die
Versuchspersonen versuchten, sich zu erinnern.
Aber besonders bei den Personen, die sich am schlechtesten entsannen, wurden zusätzlich starke
Energieflecken im Stirnlappen sichtbar.»Mehr Gehirn «lief also in diesem Falle buchstäblich auf weniger
Erinnerung hinaus. In einem weiteren Versuch verfolgten die Probanden gewöhnliche Substantive (zum
Beispiel Schere) und assoziierten die passenden Verben (zum Beispiel schneiden). Prompt leuchteten die
einschlägigen Areale in der PET-Darstellung auf. Bei einer Wiederholung der Prozedur blieben diese
Regionen jedoch dunkel. Schon nach wenigen Minuten Übung kann das Gehirn offenbar bestimmte
Leistungen mit dem denkbar geringsten Aufwand lösen.
Unausgesprochen geht der Mythos auch von der Grundannahme aus, dass Nervenzellen ein
phlegmatisches Wesen haben und sich am liebsten vor ihrer Arbeit — dem Übermitteln von Informationen
— drücken. Doch die Versuchsergebnisse der vergangen Jahren belegen ohne Zweifel, dass jedes einzelne
Neuron vom Wesen her ein arbeitswütiger» Workaholic «ist. Es gibt Nervenzellen, die nichts anderes tun,
als die Daten zu registrieren, die von bestimmten Körperteilen (zum Beispiel einem Finger) eintreffen.
Doch wenn ein Tier oder ein Mensch den betreffenden Finger verliert, werfen die zugehörigen Neuronen
keineswegs ihre Arbeit hin. Sie satteln vielmehr schlagartig um und helfen beim Entschlüsseln der
Signale vom benachbarten Finger mit.
Es ist fast unmöglich, die Fülle an Befunden aus der Gehirnforschung aufzuzählen, die mit dem 10-
Prozent-Mythos unvereinbar sind, konzediert Beyerstein. Wenn der Mythos zuträfe, müsste es eine große
Zahl von Nervenzellen geben, die unter allen Bedingungen reglos sind. Aber genauso, wie der Mensch
niemals alle Muskeln des Körpers auf einmal anstrengt, fordert das Gehirn niemals sämtliche Synapsen
auf einmal an. Wissenschaftler haben mittlerweile sämtliche Regionen des Denkapparates mit
eingepflanzten Elektroden und anderen Detektoren kartographiert.»Bei jeder beliebigen Tätigkeit, so
beim Essen, Fernsehen, Liebemachen oder bei der Lektüre dieses Buches strapazieren Sie die eine oder
andere Hirnregion. Doch im Verlauf eines ganzen Tages werden früher oder später alle Ecken und Winkel
des Gehirns einmal aktiviert.«
Wenn weite Teile des Gehirns nur aus leerem Ballast beständen, müssten Hirnverletzungen
eigentlich in vielen Fällen ohne Folgen bleiben. Es ist zwar zutreffend, dass Gehirne teilweise über eine
erstaunliche Fähigkeit zur Kompensation von Verlusten verfügen, doch Hirnschäden lassen häufig schon
bei geringfügigem Umfang schwerwiegende Ausfallerscheinungen zurück. Wie tragisch solche Störungen
enden können, hat der Neuropsychologe Oliver Sacks in seinem erschütternden Bestseller» Der Mann,
der seine Frau mit dem Hut verwechselte «aufgezeigt.
Aus der Sicht der Evolutionslehre ist es völlig undenkbar, dass die Natur die» Krone der Schöpfung«
mit dem unnötigen Luxus von 90 Prozent» arbeitsscheuer «Hirnmasse ausgestattet hat. Im Kampf ums
Dasein ist immer Schmalhans Küchenmeister, und der» blinde Uhrmacher «Evolution strebt mit
gnadenloser Härte einen ökonomischen Einsatz der knappen Güter an. Das Gehirn zweigt, wie bereits
erwähnt, einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Stoffwechselenergien ab.
Wenn man den Blick auf den vermeintlich» primitiven «Steinzeitmenschen richtet, kann man leicht
einer optischen Täuschung erliegen, die dem 10-Prozent-Mythos Zündstoff gibt. Wir leben heute in einem
hochkomplizierten Universum, das enorme Anforderungen an das Lernen und die Verarbeitung von
Informationen stellt. Jeder Schüler verdrückt heute Berge von Wissen, die morgen schon wieder veraltet
sind. Da fällt es leicht, zu glauben, dass Fred Feuerstein mit einem Zehntel der heute erforderlichen
Hirnkapazität zurande kam. Doch wieder einmal liegt man mit dem ersten Eindruck schief. Bereits bei
den Rätseln, die unsere Ahnen im Neandertal lösen mussten, war der hundertprozentige Einsatz der
«Grütze «angesagt.
Bei den heute noch naturnah lebenden Jäger-und-Sammler-Völkern kann man sehen, welche
Vorzüge mühsam angeeignetes Wissen im Urzustand birgt. Es erlaubt zum Beispiel einem kompetenten
Jäger, an einer Fährte abzulesen, von welchem Tier sie stammt, welches Geschlecht und Alter dies hat, ob
es allein oder in einer Gruppe war, was es gefressen hat und wie alt die Spur ist. Da das Sammeln dieser
Expertise viele Jahre währt, reift ein Jäger bei diesen Völkern erst im Alter von etwa 40 Jahren zu wahrer
Meisterschaft. Das geht nicht, wenn man 90 Prozent seiner Hirnkapazität zum Fenster hinauswirft.
Wenn weite Teile des Gehirns in einem» Dornröschenschlaf «lägen, müsste schließlich ein
Phänomen eintreten, das jeder von seinen Muskeln kennt. Nach dem Motto» Wer rastet, der rostet «bauen
die Teile, die nicht ständig gefordert werden, nach einer Weile ab. Es ist nachgewiesen, dass Neuronen
diesen Abbauerscheinungen im Vergleich zu» Muckis «noch stärker unterworfen sind. In der
vorgeburtlichen Entwicklung wird zum Beispiel ein erheblicher Überschuss an Nervenzellen gebildet.
Nur die Neuronen, die tatsächlich eine aktive Funktion erfüllen, bleiben von der nachfolgenden
«Säuberungsaktion «verschont. Wenn das Gehirn also wirklich eine» stille Reserve «hätte, wäre diese, in
dem Augenblick, da sie zum ersten Mal gefordert würde, längst tot. In diesem Fall müssten in den
Gehirnen Erwachsener schwerste Anzeichen von Degeneration zu finden sein, meint Beyerstein.»Bei der
Obduktion von Gehirnen normaler Erwachsener hat man jedoch noch nie solche Hinweise entdeckt.«
1 Drösser, Christoph: »Stimmt's«: Der Mensch nutzt nur zehn Prozent seiner Gehirnkapazität. In: Die Zeit, Nr. 40/1997.
2 Beyerstein, Barry L.: Whence cometh the myth that we only use 10 % of our brains? In: Della Sala, Sergio (Hg.): Mind myths. Chichester et al.
1999.
3 Radford, Benjamin: The ten percent myth. In: Skeptical Inquirer, March 1999.
4 Higbee, Kenneth L. /Clay, Samuel L.: College students' beliefs in the ten-percent myth. In: The Journal of psychology, Vol. 132 (5) 1998, S. 469–476.
Seiten verkehrt
«Die beiden Hemisphären des Gehirns beherbergen völlig unterschiedliche Leistungen«
Mit der linken Hälfte des Kopfes zu denken heißt, logisch, analytisch und detailorientiert vorzugehen.
Doch um unsere geistige Zukunft zu sichern, müssen wir verstärkt die rechte Gehirnhälfte, den Hort der
intuitiven, kreativen und ganzheitlichen Verstandestätigkeit bemühen. Auf dieser populären
Gegenüberstellung basieren Selbsthilfebücher, Therapien, Volkshochschulseminare, Kurse in
Kindergärten und Wirtschaftsunternehmen.»Die meisten Neurobiologen halten diese Vorstellungen für
stark vereinfacht, um nicht zu sagen für Unsinn«, sägt das renommierte Wissenschaftsmagazin» New