Breitenstein hatte Georg auf einen Sitz niedergezogen, den er ihm als einen ganz vorzüglichen anpries. »Ich hätte Euch«, sagte der alte Herr, »zu den Gewaltigen da oben, zu Frondsberg, Sickingen, Hutten und Waldburg setzen können, aber in solcher Gesellschaft kann man den Hunger nicht mit gehöriger Ruhe stillen. Ich hätte Euch ferner zu den Nürnbergern und Augsburgern führen können, dort unten, wo der gebratene Pfau steht – weiß Gott sie haben keinen übeln Platz –, aber ich weiß, daß Euch die Städtler nicht recht behagen, darum habe ich Euch hieher gesetzt. Schauet Euch hier um, ob dies nicht ein trefflicher Platz ist? Die Gesichter umher kennen wir nicht, also braucht man nicht viel zu schwatzen. Rechts haben wir den geräucherten Schweinskopf mit der Zitrone im Maul, links eine prachtvolle Forelle, die sich vor Vergnügen in den Schwanz beißt, und vor uns diesen Rehziemer, so fett und zart wie auf der ganzen Tafel keiner mehr zu finden ist.«
Georg dankte ihm, daß er mit so viel Umsicht für ihn gesorgt habe, und betrachtete zugleich flüchtig seine Umgebung. Sein Nachbar rechts war ein junger zierlicher Herr, von etwa 25 bis 30 Jahren. Das frischgekämmte Haar, duftend von wohlriechenden Salben, der kleine Bart, der erst vor einer Stunde mit warmen Zänglein gekräuselt worden sein mochte, ließen Georg, noch ehe ihn die Mundart davon überzeugte, einen Ulmer Herrn erraten. Der junge Herr, als er sah, daß er von seinem Nachbar bemerkt wurde, bewies sich sehr zuvorkommend, indem er Georgs Becher aus einer großen silbernen Kanne füllte, auf glückliche Ankunft und gute Nachbarschaft mit ihm anstieß, und auch die besten Bissen von den unzähligen Rehen, Hasen, Schweinen, Fasanen und wilden Enten, die auf silbernen Platten umherstanden, dem Fremdling aufs Teller legte.
Doch diesen konnte weder seines Nachbars zuvorkommende Gefälligkeit noch Breitensteins ungemeiner Appetit zum Essen reizen. Er war noch zu sehr beschäftigt mit dem geliebten Bilde, das sich ihm beim Einzug gezeigt hatte, als daß er die Ermunterungen seiner Nachbarn befolgt hätte. Gedankenvoll sah er in den Becher, den er noch immer in der Hand hielt, und glaubte, wenn die Bläschen des alten Weines zersprangen und in Kreisen verschwebten, das Bild der Geliebten aus dem goldenen Boden des Bechers auftauchen zu sehen. Es war kein Wunder, daß der gesellige Herr zu seiner Rechten, als er sah, wie sein Gast, den Becher in der Hand, jede Speise verschmähe, ihn für einen unverbesserlichen Zechbruder hielt. Das feurige Auge, das unverwandt in den Becher sah, der lächelnde Mund des in seinen Träumen versunkenen Jünglings schien ihm einen jener echten Weinkenner anzuzeigen, die auf fein geübter Zunge den Gehalt des edlen Trankes lange zu prüfen pflegen.
Um der Ermahnung des wohledlen Rates, den Gästen das Mahl so angenehm als möglich zu machen, gehörig nachzu kommen, suchte er auf der entdeckten schwachen Seite dem jungen Mann beizukommen. Es war zwar gegen die Gewohnheit des jungen Ulmers, Wein zu trinken, aber dem jungen Mann zulieb, der etwas so Hohes und Gebietendes an sich hatte, mußte er schon ein übriges tun. Er schenkte sich seinen Becher wieder voll und begann: »Nicht wahr, Herr Nachbar, das Weinchen hat Feuer und einen feinen Geschmack? Freilich ist es kein Würzburger, wie Ihr ihn in Franken gewohnt sein werdet, aber es ist echter Ellfinger aus dem Ratskeller und immer seine achtzig Jahre alt.«
Verwundert über diese Anrede, setzte Georg den Becher nieder und antwortete mit einem kurzen »Ja, ja –« der Nachbar ließ aber den einmal aufgenommenen Faden nicht so bald wieder fallen. »Es scheint«, fuhr er fort, »als munde er Euch doch nicht ganz, aber da weiß ich Rat. Heda! gebt eine Kanne Uhlbacher hieher. – Versuchet einmal diesen, der wächst zunächst an des Württembergers Schloß; in diesem müßt Ihr mir Bescheid tun: Kurzen Krieg, großen Sieg!«
Georg, dem dieses Gespräch nicht recht zusagte, suchte seinen Nachbar auf einen anderen Weg zu bringen, der ihn zu anziehenderen Nachrichten führen konnte: »Ihr habt«, sprach er, »schöne Mädchen hier in Ulm, wenigstens bei unserem Einzug glaubte ich deren viele zu bemerken.«
»Weiß Gott«, entgegnete der Ulmer, »man könnte damit pflastern.«
»Das wäre vielleicht so übel nicht«, fuhr Georg fort, »denn das Pflaster Eurer Straßen ist herzlich schlecht. Aber sagt mir, wer wohnt dort in dem Eckhaus mit dem Erker, wenn ich nicht irre, schauten dort zwei feine Jungfrauen heraus, als wir einritten.«
»Habt Ihr diese auch schon bemerkt?« lachte jener, »wahrhaftig, Ihr habt ein scharfes Auge und seid ein Kenner. Das sind meine lieben Basen mütterlicherseits, die kleine Blonde ist eine Besserer, die andere ein Fräulein von Lichtenstein, eine Württembergerin, die auf Besuch dort ist.«
Georg dankte im stillen dem Himmel, der ihn gleich mit einem so nahen Verwandten Mariens zusammenführte. Er beschloß den Zufall zu benützen, und wandte sich so freundlich er nur konnte, zu seinem Nachbar: »Ihr habt ein paar hübsche Mühmchen, Herr von Besserer...«
»Dieterich von Kraft nenne ich mich«, fiel er ein, »Schreiber des Großen Rates –«
»Ein paar schöne Kinder, Herr von Kraft; und Ihr besuchet sie wohl recht oft?«
»Ja wohl«, antwortete der Schreiber des Großen Rates, »besonders seit die Lichtenstein im Hause ist. Zwar will mein Bäschen Berta etwas eifersüchtig werden, denn im Vertrauen gesagt, wir waren vorher ein Herz und eine Seele, aber ich tue als merke ich es nicht, und stehe mit Marien um so besser.«
Diese Nachricht mochte nicht so gar angenehm in Georgs Ohren klingen, denn er preßte die Lippen zusammen und seine Wangen färbten sich dunkler.
»Ja lachet nur«, fuhr der Ratsschreiber fort, dem der ungewohnte Geist des Weines zu Kopfe stieg, »wenn Ihr wüßtet, wie sie sich beide um mich reißen. Zwar – die Lichtenstein hat eine verdammte Art freundlich zu sein, sie tut so vornehm und ernst, daß man nicht recht wagt, in ihrer Gegenwart Spaß zu machen, noch weniger läßt sie ein wenig mit sich schäkern wie Berta, aber gerade das kommt mir so wunderhübsch vor, daß ich eilfmal wiederkomme, wenn sie mich auch zehnmal fortgeschickt hat. Das macht aber«, murmelte er nachdenklicher vor sich hin, »weil der gestrenge Herr Vater da ist, vor dem scheut sie sich, laßt nur den einmal über der Ulmer Markung sein, so soll sie schon kirre werden.«
Georg wollte sich nach dem Vater noch weiter erkundigen, als sonderbare Stimmen ihn unterbrachen. Schon vorher hatte er mitten durch das Geräusch der Speisenden diese Stimmen zu hören geglaubt, wie sie in schleppendem, einförmigem Ton ein paar kurze Sätze hersagten, ohne zu verstehen was es war. Jetzt hörte er dieselben Stimmen ganz in der Nähe, und bald bemerkte er welchen Inhaltes ihre eintönigen Sätze waren. Es gehörte nämlich in den guten alten Zeiten, besonders in Reichsstädten zum Ton, daß der Hausvater und seine Frau, wenn sie Gäste geladen hatten, gegen die Mitte der Tafel aufstanden, und bei jedem einzelnen umhergingen, mit einem herkömmlichen Sprüchlein zum Essen und Trinken zu nötigen.