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Rainer Merkel

Lichtjahre entfernt

Für meinen Vater

«Bis dahin hatte ich nur darauf gewartet, aber jetzt hatte ich endlich begriffen, daß ich keine Minute länger warten durfte, daß ich, wenn ich glücklich sein wollte, es augenblicklich sein mußte.«

Emmanuel Bove

Teil Eins

1

Die Hitze ist so stark, lastet so schwer auf einem, dass man sie immerfort beiseiteschieben und wegdrängen will. Ich lasse das Wasser im Bad laufen, während ich im Wohnzimmer vor der orangenen Couch stehe, auf der Judith vor fünf Tagen geschlafen hat. Die Hitze schiebt sich wie ein großes mehrdimensionales Gebilde in die Wohnung, als drängte der gesamte Atem der Stadt, die Ausdünstungen von ganz Brooklyn in das Zimmer hinein. Ich schaue auf die Couch. Das leuchtende Orange ist eine eigentümliche Radikalisierung, eine fast comichafte Wiederholung ihrer Haut. Die Couch, plötzlich erhellt, unwirklich geworden, überbelichtet, wie ausgebleicht. Sie hat nicht einmal ein Laken benutzt, es sich aber gefallen lassen, dass der Ventilator nur auf der untersten Stufe läuft. Ich habe noch eine Stunde, höchstens anderthalb. Immer wieder halte ich inne. Gehe die Stationen im Einzelnen durch. Das heißeste New York seit Jahren. Schon am Sonntag auf dem Dampfer auf dem Hudson River, bei meinem Ausflug mit Mads Christiansen, kam mir der Verdacht, es wäre vielleicht besser gewesen, doch nach Washington zu fahren. Aber wieso soll ich nach Washington fahren, wenn sie genauso gut nach New York kommen kann und wir sogar eine Wohnung für uns ganz allein haben? Aber ich lasse mich auf einen Machtkampf mit ihr ein. Noch dazu in einer Wohnung, die keine Klimaanlage hat. Nicht im Geringsten habe ich an sie gedacht, als ich den Ventilator gekauft habe. Trotzdem würde ich alle verfügbaren Ventilatoren, die in diesem Sommer in New York zu bekommen sind, für sie kaufen. Ich hätte die Wohnung von Michael und Janette mit Ventilatoren bestückt, mit Dutzenden, mit Hunderten von ihnen. Allein in dem kleinen Billigladen an der Ecke Grand Street/Leonard Street hätte ich alle verfügbaren Ventilatoren gekauft, auch den mannshohen, der mich, wie er im Geschäft zu Demonstrationszwecken auf einem Karton aufgestellt ist, sogar leicht überragt. Die Hitze macht ihr nichts aus. Sie ist immun dagegen. Sie schwitzt noch nicht mal. Sie sagt, die Wohnung sei schön, aber sie sagt es erst, nachdem wir sie schon wieder verlassen haben.»Möchtest du wirklich nur eine Nacht bleiben?«, frage ich, als wir in dem koreanischen Restaurant in der Grand Street sind. Ich habe den großen Ventilator nicht gekauft, weil er mir zu klobig erschien. Auf höchste Stufe gestellt, erreicht auch der neue nur dann einen Kühlungseffekt, wenn man sich direkt vor ihn stellt. Er läuft ununterbrochen, nur nachts stelle ich ihn aus. Ein wie wahnsinnig rotierendes Plastikgebilde, bei dessen Anblick man immerzu fürchtet, es würde sich selbständig machen, sich in Bewegung setzen und die Wohnung, selbst auf der Suche nach Kühlung, verlassen, mit unbeholfenen ruckenden Schritten durch die Grand Street bis an die Kreuzung Grand Street/Leonard Street, um dort voller Verzweiflung vor den Schaufenstern des geschlossenen Geschäfts, aus dem es stammt, stehen zu bleiben und immerfort mit seinen Plastikrotorblättern wedelnd auf Erlösung zu warten. Das orangerote Velours der Couch. Die Schweißtropfen, die nicht verdunsten und Flecken hinterlassen. Und wie Judith sich auf einmal einfach auf die Couch legt und ich auf das Doppelbett. Ein misslungenes Wochenende, ein außer Kontrolle geratener Machtkampf. Oder einfach ein Zeichen von Erschöpfung?

Jetzt, eine Stunde vor meinem Abflug, habe ich den Ventilator ausgeschaltet. Vielleicht weil ich mich mit der Hitze bestrafen will oder weil ich mich mit einer kindlichen Begeisterung auf die kalte Dusche freue, auf die jetzt alles zusteuert, der letzte Akt, bevor ich New York verlasse. Wir verbringen nur eine Nacht zusammen. In getrennten Betten, die so weit voneinander entfernt sind, dass wir uns noch nicht mal die Hand geben können. Vielleicht ist es nur eine Episode in einer langjährigen Beziehung, über die man später lachen kann. Ich packe das grüne Plastikkreuz ein, das ich ihr bei der Verabschiedung zu geben vergessen habe. Die dunkelbraune Papiertüte mit dem leuchtend grünen Kreuz, billiger, zerbrechlicher Designerschmuck, mit dem ich ein Lächeln auf ihr Gesicht, wie ich nicht anders sagen kann, zaubern wollte. Wir verlassen das Restaurant und laufen die Grand Street entlang. Etwas von ihrer anfänglichen Begeisterung kehrt wieder zurück, als ich ihr das Geschäft zeige, in dem ich den Ventilator gekauft habe, und den Supermarkt, in dem man sich immer so fühlt, als sei man in Südamerika. Für einen Moment bleibt sie vor dem verbarrikadierten stockdunklen Laden stehen, während ich erzähle, wie die Kinder der Besitzer einem die Einkäufe immer in Plastiktüten packen und dann sogar noch bis zur Straße tragen. Tagsüber reiht sich hier ein Geschäft an das andere, und in der Nacht taucht dann auf einmal zwischen all den heruntergelassenen Rolltoren eine kleine Bar auf, die Blue Mountain heißt. Unter normalen Umständen würde sie ihr gefallen, aber sie will noch nicht mal ihren Cocktail austrinken und versinkt in dem großen Sessel neben der Fransen-Stehlampe, die direkt am Fenster steht.»Und wo ist jetzt deine Wohnung?«, fragt sie. Sie versucht mit aller Kraft den Eindruck zu erwecken, als würde sie den Abend genießen. Wir laufen durch New York. Wir laufen durch die Hitze. Den ganzen nächsten Tag, als hätten wir nichts Besseres zu tun. Und ich denke in diesem Moment, dass Judith doch ein ganz anderer Mensch ist als Gabriela und dass man sie kaum miteinander vergleichen kann und es auch keinen Sinn macht, es immer wieder zu tun. Wenn Gabriela etwas nicht gefällt, wird sie sofort wütend, während Judith immer ganz ruhig bleibt.»Da oben«, sage ich und zeige auf den dritten Stock. Es ist ein Witz. Wir verbringen nur eine Nacht zusammen. Judith trinkt den Cocktail aus, aber nur weil ich sie darum bitte. Sie leert das Glas in einem Zug, und das wiederum ist etwas, das Gabriela nie tun würde.

Plötzlich ergraut und verhärtet sich alles. Die zerrissenen Fliegengitter vor den Fenstern. Die wackeligen Regale, die mit Industrielack angestrichen sind. Das enge klaustrophobische Bad, dessen Eingang direkt neben dem Elektroherd liegt. New York ist an diesem Tag diesig und schwermütig. Alles hält die Luft an, bevor die Hitze ihren Höhepunkt erreicht. Mein Flug geht in drei Stunden, aber ich habe die Wohnung noch immer nicht aufgeräumt. Direkt neben dem Bett vor dem zubetonierten Kamin auf einem großen Stapel mit Ausgaben der Zeitschrift n+1 steht der Wecker. Der Alarm ist auf sieben Uhr gestellt. Als wäre das eine Formel, eine Zustandsbeschreibung. n+1. Als könnte das Glück bringen. Aber ich bin schon eine Stunde früher aufgestanden. Ich sage zu ihr:»Wollen wir nicht spazieren gehen? Wollen wir uns nicht New York anschauen?«Wenn sie in München am Wochenende tanzen gehen will, ist ihre Vorfreude immer so groß, dass ich schon allein deswegen mitkomme, um zu erleben, wie glücklich sie ist. Sie schaut auf die Speisekarte. Es fängt alles ganz normal an.»Wie sieht sie denn aus?«, fragt sie, als würde sie eine ganze Woche bleiben. Sie sagt: Deine Wohnung. Sie gehört Michael und Janette. Es ist allenfalls» unsere «Wohnung, zumindest an diesem Wochenende. Es ist ihre Spezialität, ihr intuitives Verständnis von Zeiträumen, in denen sich unser Schicksal verengt und sich meine Unfähigkeit, schnell zu reagieren, so zuspitzt, dass ich am nächsten Tag vier Meter vor der elektrischen Schiebetür des Port Authority Bus Terminals, kurz bevor sie nach Washington zurückfährt, auf einmal alle Kommunikationsfähigkeit verliere und minutenlang gar nichts mehr sage. Dabei fahre ich nicht mit, dabei steige ich gar nicht in den Bus ein. Eine Frage drängt sich mir in diesem Moment auf, während ich in der Küche vor dem Regal stehe und überlege, ob der Staub, der sich wie ein Schleier über das arabisch aussehende Tongefäß gelegt hat, von mir stammt und wie er sich während meiner Anwesenheit dort so schnell gesammelt hat. Nämlich die Frage: Hat ihr die Stadt etwa nicht gefallen? Ist sie von New York enttäuscht? Ihre Augen bekommen einen merkwürdigen Glanz, als wir vor dem kleinen Haus mit der Wellblechfassade stehen, in dem Michael und Janette wohnen. Während wir noch auf dem Weg zur Wohnung die ganze Zeit über das Buch, das Kyra ihr geliehen hat, sprechen und ich das Gefühl habe, sie würde mich mit einem ihrer Akademiker-Freunde verwechseln, ist sie jetzt auf einmal ganz übermütig und verspielt. Es ist etwas, das ich schon einmal einem Klienten erklärt habe, als es darum geht, eine traumatische Erfahrung zu bearbeiten, und ich ihm sage, dass man solche Erinnerungsräume sehr wohl noch einmal betreten könne und dass man dabei selbst entscheiden kann, wie lange man in ihnen verweilt, und dass man auch das Recht hat, diesen Raum für sich anders zu gestalten und zu verändern, sofern es dem eigenen psychischen Gleichgewicht dient. Als es bei meiner letzten Stunde mit Lambert zu einer Auseinandersetzung kommt, sage ich ihm, dass es mir leidtäte, dass es ausgerechnet jetzt passiert sei, es würde auch mich belasten und er könne versichert sein, dass wir genau an der Stelle bei meiner Rückkehr wieder anknüpfen und genau dort weitermachen würden. Ich sage zu ihm:»Wir fangen genau an der gleichen Stelle wieder an. «Und um ihn zu beruhigen, mache ich mir in meinem Kalender sofort einen Vermerk.»Jetzt guck dir das an«, sagt Judith. Sie hat sich die Handtasche über die Schulter gehängt und schaut nach oben.