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Das ist Mads Christiansens Theorie. All diese Männer sind» Ritter der Promiskuität«. Es sind hart arbeitende Menschen, die aber in ihrem Sexualverhalten vollkommen undurchsichtig sind. So wie die Politiker, unsere Entscheidungsträger, die im Grunde ihr Sexualleben vor sich selbst verheimlichen, so wie es mir jetzt auch Lamberts Vater zu bestätigen scheint.»Es hat keinen Sinn«, sage ich zu ihm,»wenn wir jetzt damit anfangen. Fünf Minuten vor dem Ende. Wir können das nächste Mal über Ihren Vater sprechen. «Ein großer älterer Mann weicht nicht mehr von Torres’ Seite. Er ist stark behaart und hat eine von der Sonne verbrannte Halbglatze. Mit einer Hand hält er das Glied von Torres umschlossen und versucht, sich und Torres mit seinem Mobiltelefon zu fotografieren. Mein Blick streift die Szenerie nur. Er kann es nicht fassen, dass er es ist, der Torres’ halb erigiertes Glied in der Hand hält. Blitzlichter flammen auf, haltlos wie brennende Geister. Wo ist Mads Christiansen?» Weißt du, was mir an Judith so gut gefällt?«, sagt er einmal, als wir bei seinem letzten Besuch in München auf dem Rückweg vom Café Freiheit zu unserer Wohnung über den nächtlich verlassenen Rotkreuzplatz laufen. Er hat seinen blütenweißen Kaschmirpullover um die Schultern gelegt und sieht aus wie ein großer dänischer Pfau.»Dass sie unberechenbar ist. Man weiß nie, woran man bei ihr ist. Trotzdem gibt es nichts Zweideutiges bei ihr, und ich habe es noch nie erlebt, dass sie sich über irgendetwas beklagt. Ich finde das sehr beeindruckend. «Er macht große, raumgreifende Schritte. Ein dänischer Pfau, der in München gelandet ist. Im Grunde redet er über sich selbst.»Und wie hilfsbereit sie ist. Wie verständnisvoll. «Manuel Torres weicht zurück. Er versucht, sein durch Hunderte von DV Ds, durch Hunderte von Einstellungen geschleustes Organ wieder auf Vordermann zu bringen. Aber eine richtige Erektion bekommt er nicht hin. Der Schnauzbärtige grinst mir zu, als er mich unter den Zuschauern entdeckt. Er stellt sich neben mich. Ich lächele zurück, hoffe aber, dass er kein Gespräch anfängt. In diesem Moment sehe ich, wie eine Hand suchend über den Oberkörper von Manuel Torres tastet. Jemand muss hinter ihm stehen. Die Hand tastet über den Bizeps, den Oberkörper und halb über das Schlüsselbein. Es scheint, als versuche diese fremde, herrenlose Hand, die zum Glück nicht zu Mads Christiansen gehört, den Körper von Torres in Besitz zu nehmen.

Warum hilft Judith so gerne? Ihre Hilfsbereitschaft hat etwas Träumerisches. Sie hilft ohne Motiv, leidenschaftslos und gleichmütig. Beinahe jedes Wochenende übernachtet jemand bei uns. Der Augenblick der Großzügigkeit, ihr Gesicht, wenn sie das Korsett der Demut und Zurückhaltung durchbricht und sich auf einmal ganz verschwenderisch gibt.»Du kannst doch auch bei uns übernachten, wenn du willst«, sagt sie. Oder:»Bleib doch einfach bei uns, du musst doch jetzt nicht mehr nach Hause fahren. «Ihr Gesicht, im Glanz ihrer Hilfsbereitschaft, ist halb Verschwendung, halb Hingabe.»Also du weißt ja, wir haben diese Gästewohnung im Keller. Wenn du willst, kannst du gerne bei uns übernachten«, sagt sie zum Beispiel zu Ulrich, der seit zehn Jahren vergeblich über Husserl zu promovieren versucht und mich vor vier Jahren, in dem Jahr der großen finanziellen Krise, einmal fragt, ob es vielleicht nicht doch denkbar wäre, dass er bei mir eine Therapie anfinge und diese Therapie sich einzig und allein um die Fertigstellung der Husserl-Promotion drehe und nichts anderes im Sinn habe, als eine Therapie der Fertigstellung, eine Therapie dieses Prozesses zu sein.»Dann übernachte doch einfach bei uns«, sagt Judith. Diese feisten, immer leicht ironischen Absolventen aus den verschiedenen Promotions- oder Diplomandenkolloquien, diese von glasiger Teilnahmslosigkeit und entzündeten Nerven gleichermaßen eingerahmten und übertransparenten Menschen mittlerer Laufbahn, diese fröhlichen Intelligenzbestien. Torres wischt sich den Schweiß von der Stirn.»Hast du Lust?«, fragt der Schnauzbärtige. Er steht direkt neben mir, ich habe ihn gar nicht bemerkt. Er hat eine sehr hohe Stimme.»Es ist eine ganz zwanglose Runde. «Dieser Teil seiner Einladung hätte mich skeptisch machen müssen.»Wir trinken was und sitzen ein bisschen im Garten rum. «Er lädt mich zu einer Privatparty ein, zu der auch Mads Christiansen kommt. In Queens. Seine feuchten, glasigen Lippen. Schon jetzt und nicht erst später am frühen Morgen in Queens denke ich, seine Lippen sind die Grenze, das Äußerste dessen, was ich noch ertragen kann.

Irgendwann legt das Schiff an, nachdem es halb Manhattan und nach vielen Schlenkern und Schleifen die Freiheitsstatue umrundet und dann Ellis Island erreicht hat. Das Schiff macht Umwege, um die Fahrt in die Länge zu ziehen und die Dunkelheit abzuwarten, die der Präsentation der Darsteller die richtige Atmosphäre verschafft. Anfangs, kurz nach dem Ablegen, sieht man sie noch, knapp bekleidet, auf dem Oberdeck herumlaufen und erste kleinere Performances vorführen. Torres wirkt am Ende so, als weide er sich an der Lust, die ihn umgibt, als suhle er sich in ihr, während er seine Bewunderer von ihr erlöst, denen es dann genügt, Bilder von ihm mit nach Hause zu nehmen. Die heilige und unschuldige Einfalt der männlichen Sexualität. So wie Torres sie vorführt, wie er es zulässt, von insgesamt vier Männern berührt und stimuliert zu werden, sowie von zwanzig anderen angeschaut und abgelichtet zu werden, als sei er eine männliche Florence Nightingale, die von den Schlachtfeldern zurückgekehrt ist. Und tatsächlich ist er ein Krankenpfleger, wie ich später erfahre.»Ist die männliche Sexualität nicht im Grunde ganz unkompliziert?«, sagt Mads Christiansen, als wir vom Café Freiheit zurückkommen. A travelling nurse. Ein Pfleger. Ich erfahre es bei der Autogrammstunde. Ich frage mich, warum Mads Christiansen das immer wieder erklärt. Er sagt:»Homosexuell zu sein bedeutet, den Körper ernst zu nehmen. «Wir sitzen zusammen bei uns zu Hause und essen zu Abend. Judith hört ihm gespannt zu, mit ihren vom Wein geröteten Lippen, während er seine Darkroomgeschichten erzählt.»Besonders wenn man versteht, wie leicht der Körper verwundet und zerstört werden kann, neigt man zur Homosexualität«, erklärt er.»Dieses Hochgefühl und wie dann der Moment der Reinigung kommt und das Menschsein wird einfach aus einem ›herauskatapultiert‹. «Wir stoßen auf unsere Freundschaft an. Er liest Lee Edelmann und will mich überreden, mich auch wieder mit theoretischen Texten zu beschäftigen. Judith und ich trinken Sekt, Mads Christiansen Mineralwasser. Er hat als Sanitäter gearbeitet in seinem früheren Leben. Als seien seine sexuellen Vorlieben aus den altruistischen Neigungen in seiner Jugend, als er sich für das Dänische Rote Kreuz engagierte, zwangsläufig hervorgegangen.»Ob wir da mal hingehen sollten? Ob wir so etwas auch mal machen sollten?«, fragt Judith, als Mads Christiansen in unsere Gästewohnung gegangen ist und sich schlafen gelegt hat.»Wohin?«, frage ich.»In so einen Raum, einen Darkroom«, sagt sie und nimmt für einen Moment ihre elektrische Zahnbürste aus dem Mund. Später sitzen alle Darsteller unter Deck, nach einer improvisierten Tombola, bei der Kondome, DVDs und Freikarten für die nächste Dampferfahrt verteilt werden und geben Autogramme. Sie alle, Torres, Sanders und Powers, sitzen mit dicken schwarzen Filzstiften bewaffnet an einem langen Tisch und signieren Fotos, die auf einem anderen Tisch liegen und die man sich einfach so nehmen kann. Mads Christiansen bleibt verschwunden. Als der Entschluss in mir heranreift, die Einladung des Schnauzbärtigen anzunehmen und mit zwei anderen Freunden von Mads Christiansen zu der Party nach Queens zu fahren, ist er schon nicht mehr da. Er ist vielleicht wirklich in Staten Island von Bord gegangen und mit der Fähre zurück nach Manhattan gefahren. Vielleicht muss er sich noch auf seinen Vortrag vorbereiten. Er hat im Gegensatz zu mir seine Sexualität fest im Griff. Er masturbiert täglich, wie er sagt, aus» psychohygienischen «Gründen. Das Schiff legt an. Torres duckt sich, klammert sich an den Filzstift, mit dem er Autogramme gibt. Ich habe das Gefühl, er kann gar nicht schreiben, so komisch und unbeholfen sieht seine Schrift aus. Wie eine auf den Kopf gestellte Ruine, die beiden» r «in seinem Namen wie zwei zu Strichen verkümmerte Säulen eines Tempels.»Warum tust du so etwas?«, könnte ich ihn fragen.»Warum tust du dir so etwas an? Geht da nicht alles in die Brüche? Deine Würde? Deine Seele? Geht das nicht alles den Bach runter?«