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Ich stehe an der Reling und schaue auf Manhattan. Die Lichter der Türme im Finanzdistrikt breiten ihren Glanz sanft und gleichmäßig über dem Wasser aus. Ich frage mich, wie viel Geld ich Michael und Janette geben soll. Sind vierzig Dollar genug? Das Licht sickert in gräulichen Schwaden hinunter. Die Türme leuchten in großer Selbstgewissheit. In einigen Büroräumen leuchtet es so intensiv, als säßen die Angestellten noch in der Nacht mit kleinen Spiegeln an ihren Plätzen, um die Partyteilnehmer auf dem Dampfer zu blenden. Irgendwo dahinter, irgendwo eingeschlossen und von gewaltigen Steinmassen umgeben, liegt der Port Authority Bus Terminal. Mit seinen Treppen, Fahrstühlen, Fluren und Warteschlangen, Zwischengeschossen und Durchgängen. Es ist weniger ein Gebäude als eine aus mehreren zu absolvierenden Stationen bestehende Verabschiedungsfabrik, in der wir es fast bis zum Ausgang oder, je nachdem, wie man es sieht, bis zum Eingang geschafft haben. Das ist die Erkenntnis. In der Schlange, im Port Authority Bus Terminal, die Erkenntnis: Judith ist gelassener als ich. Sie denkt, ich halte es ohnehin nicht ohne sie aus, und dann stehe ich wieder am Flughafen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie annimmt, es sei in finanzieller Hinsicht kein Problem.»Hast du nicht gesagt, du nimmst sowieso keine Klienten mehr an?«Man muss den Druck auf das psychische System erhöhen, wenn es im Inneren brüchig ist, schreibe ich in mein Notizbuch. Erhöhe den Druck, den Aufmerksamkeitspegel, den seelischen Spannungszustand. Busnummer 429, Zielort Washington, D. C. Judith möchte unbedingt schon am frühen Abend zurück sein. Ob sie mit jemandem zum Abendessen verabredet ist? Ich kann es nicht herausfinden, weil ich sie immer unterbreche. Drei Meter vom Ausgang entfernt. Zwei, drei Reisende, die noch vor uns sind. Weil ich sie mit meinem Schweigen gar nicht mehr zu Wort kommen lasse. Ich erkenne zu spät, dass ich gar nicht bis zum Bus mitkommen kann. Ein Mitarbeiter der Busgesellschaft kontrolliert die Fahrausweise schon vor Betreten des Areals, in dem die Busse warten. Der Bus erinnert mich, wie er windschnittig und silbern vor uns steht, an den Amtrak-Zug, mit dem wir im Frühling von Washington nach Baltimore gefahren sind. Und wie wir dann, in einem Moment unwirklicher Harmonie, in der Sonne am Hafen sitzen, den ich am Morgen schon allein erkundet habe, ohne sie. Eine Frage drängt sich mir schon in diesem Moment auf, während ich überlege, ob ich Michael und Janette gegenüber nicht ein bisschen großzügiger sein soll, nämlich die Frage, was eigentlich Judith über dieses Wochenende denkt. Ist ihr eigentlich bewusst, dass ich letztlich nur wegen ihr gekommen bin? Drei Minuten, die uns noch bleiben, bevor sie zurück nach Washington fährt, und ich sehe sie die nächsten zwei Monate nicht mehr wieder. Was ist passiert? Was ist eigentlich wirklich zwischen uns in New York passiert? Ich umrunde Manhattan, in einem Schiff mit Hunderten von Männern. Warum bin ich nicht in Washington? Das Licht gleitet aus dem Mond, verliert sich, tröpfelt in die schmalen dunkelgrauen Wolkenbänder hinein. Erst als ich mich schon halb abwende, sehe ich die Spiegelung auf dem Wasser, die tänzelnde, fast hämische Fortsetzung des Lichts auf den kleinen, gekämmt wirkenden Wellen, die vom Finanzdistrikt zu uns herüberrollen. Turm für Turm vibrierend vor Emphase und Lichtseligkeit. Ich überlege, ob ich die Summe nicht verdoppeln oder besser verdreifachen soll, und während ich das noch überlege und darüber nachdenke, wie viel Geld ich Janette und Michael nun zurücklassen soll, stelle ich, in einem Moment ungläubigen Staunens, während ich meine Armbanduhr mit dem Ziffernblatt des Weckers vergleiche, plötzlich fest, dass die Uhrzeit auf meinem Ein-Dollar-Wecker nicht stimmt, dass es genau eine Stunde später ist und dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit meinen Flug verpasse.

Teil Zwei

1

Die beiden Taschen hinter mir herziehend, versuche ich die U-Bahn-Station Grand Street zu erreichen. Draußen ist die Hitze noch größer. Ich könnte ein Taxi nehmen, ich könnte auf Nummer sicher gehen. Was bedeutet mir Judith eigentlich. Liebe ich sie noch? Ich ziehe die Taschen hinter mir her, in einer von ihnen, zwischen der gebrauchten Unterwäsche vergraben, das grüne Plastikkreuz, das ich ihr nicht gegeben habe. Ich könnte mit dem Taxi fahren. Ich könnte kein Risiko eingehen, denke ich, die Taschen in einer ausholenden Bewegung auf meinen Rücken hebend.»Es ist eine Zeit, die Sie für sich nutzen können«, sage ich zu Lambert.»Sie können darüber nachdenken, was Ihnen die Therapie bedeutet und wie unsere Zusammenarbeit in Zukunft aussehen soll. «Die Ereignisse überlagern sich, wiederholen sich, löschen sich gegenseitig aus. Und warum nicht einfach in drei Wochen nochmal nach Washington fahren? Ich schleppe mich vorwärts. Die Zeit, die ich in meinem ganzen Leben bei unnötigen Verrichtungen und sinnlosen Gedanken vergeudet habe, staut sich jetzt vor mir auf. Ich könnte ein Taxi nehmen. Aber allein, um auf dem Weg zur U-Bahn keine weitere Zeit zu verlieren, sehe ich mich nicht mal nach einem um. Judith hasst es, unter Zeitdruck zu geraten. Wie oft habe ich sie bei den von mir verschuldeten Wettrennen gegen die Zeit hinter mir hergeschleift und ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt.»Ich habe meinen Inhalator vergessen. «Schon nach wenigen Schritten gibt sie auf. Ich kann mich nicht erinnern, sie überhaupt einmal laufen gesehen zu haben. Auch jetzt wäre sie zweifellos längst stehen geblieben und hätte schon allein aus Protest zu atmen aufgehört. Ich laufe weiter, obwohl ich weniger laufe als stolpere. Das Gewicht der Taschen. Die Hitze. Die Formulierung:»Können wir nicht genauso gut zu Fuß gehen. «Judith will lieber Taxi fahren. Als wir im Frühling bei unserem Ausflug nach Baltimore am späten Abend den Bahnhof erreichen und es um die Frage geht, ob wir uns im strömenden Regen zu Fuß auf die Suche nach einem Hotel machen oder ob wir nicht lieber ein Taxi nehmen sollen, sage ich den Satz:»Ich würde lieber zu Fuß gehen. «Wir halten es in Washington nicht aus. Ich fliege zehn Stunden, um mit ihr zusammen zu sein. Und dann fahren wir nach Baltimore. 55 Grad gefühlte Temperatur, zweihundert Meter bis zum in die Tiefe führenden U-Bahn-Schacht. Hundertfünfzig Meter bis zur nächsten Straßenkreuzung.»Ich würde lieber zu Fuß gehen. «In Baltimore, bei strömendem Regen. Wir haben nicht einmal einen Regenschirm. Baltimore. Das könnte das letzte Mal gewesen sein, dass wir miteinander geschlafen haben. In New York haben wir uns noch nicht mal richtig umarmt.»Lass uns lieber zu Fuß gehen. «Ich kann mich nicht mehr erinnern, ich kann mich nicht mehr an die Nacht in Baltimore erinnern. Zwei Monate später. Eine Stunde, die ich verloren habe, weil ich beim Kauf eines Weckers, der nur für die Zeit meines Aufenthalts in New York gedacht war, sparen will. Aber der Wecker bleibt stehen, und zwar ausgerechnet am Tag meines Abflugs. Ich erreiche den U-Bahn-Eingang, die abgetretenen, schmierigen Treppenstufen. Die Hoffnung, hier auf dem Weg in die Unterwelt würde mir so etwas wie kühle Luft entgegenwehen, wird enttäuscht. Tatsächlich ist der U-Bahn-Eingang Grand Street ein einziger schwarzer Schlund. Ich drehe mich um. Ein Taxi fährt über die Kreuzung. Warum konnten wir nicht ein bisschen großzügiger sein, ein bisschen verschwenderischer?» Ich glaube, dass ich lieber laufen will«, sage ich zu ihr am leeren, deprimierenden Bahnhof in Baltimore, in dem sich die ankommenden Reisenden in Sekundenschnelle in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. Ich gehe die Treppenstufen nach unten. Eine Stunde im Rückstand, eine Stunde zu spät. Gierig und hemmungslos reißt das große schwarze Tier sein Maul auf. Und ich habe nichts Besseres zu tun, als die Augen zu schließen und mir zu sagen: Du schaffst es schon, du hast es bisher immer geschafft. In deinem ganzen Leben hast du noch keinen Flug verpasst.