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Die Hälfte ihrer Schuhe ist noch immer in München. Sie stehen aufgereiht in einer langen Reihe neben der Eingangstür im Flur an der Wand. Wir reden ständig darüber, ob ich ihr nicht ein paar von ihnen nach Washington schicken soll, und wir vermeiden beide die Frage, was sie mit all den Schuhen dort soll, wenn sie doch wieder zurückkommt. Ich liebe ihre Schuhe. Ich rücke ihre Schuhe nicht heraus. Obwohl mich ihr Anblick stört.»Alles kein Problem«, sagt der freundliche, aber auch etwas phlegmatische MTA-Mitarbeiter. Aber schon im Tunnel, schon hinter der Absperrung, als ich auf dem Bahnsteig stehe, zweifele ich daran. Beruht seine Zuversicht auf einem Missverständnis? Wie kann er behaupten, dass es kein Problem geben wird. Wie kann er sagen:»Keine Sorge. Das schaffen Sie schon. «Was ist in Baltimore passiert? Was ist der Unterschied zu New York? Bei meinem Versuch, die Ereignisse in die richtige Reihenfolge zu bringen, spielt Baltimore eine entscheidende, aber nicht die entscheidende Rolle. Schon am Abend nachdem Judith aus New York abgefahren ist und ich der Hitze wegen in eine Starbucks-Filiale in der Nähe des Central Parks gehe, um in der klimatisierten Luft wieder zu einem klaren Gedanken zu kommen, fange ich eine Liste an, so wie sie es tut, eine Liste der Schauplätze unserer Beziehung. Gegen die tyrannische Chronologie meiner Seele gerichtet, die an sich keine Chronologie kennt, sondern nur pure Gleichzeitigkeit, pures Simultandolmetschertum von Gefühlen und Bildern. Eine einzige Gleichzeitigkeit von Erinnerungen, die nur angedeutete Erinnerungen sind, Erinnerungen wie angetäuschte Bewegungen eines Sportlers, eines Boxers oder Fußballspielers, der im letzten Moment verzögert. In diesem Zusammenhang von einer Chronologie zu sprechen ist natürlich ein Witz. Ich sitze bei Starbucks, kurz nachdem sie mit dem Bus abgefahren ist, versuche die misslungene Verabschiedung zu verdrängen und mache eine Liste. Ich schreibe alles untereinander, einerseits zeitlich und andererseits nach seiner Bedeutung geordnet. Mein Getränk, absurderweise ein heißer Kaffee, dampft neben mir wie eine kleine autarke Fabrik, in der gearbeitet wird, während ich auf mein aufgeschlagenes Notizbuch starre. Leute kommen herein, stellen sich geduldig an, holen sich ihre Ration Klimaanlagenluft ab, kaufen sich große üppige aromatisierte Kaffeegetränke, bei denen die Sahnehäubchen unter einer Plastikglaskuppel verborgen sind. Ich versuche meine Liste zu machen. Im Gegensatz zu Judith hasse ich Listen, und ich verachte Menschen, die sie führen und so etwas nötig haben. Ich schreibe schnell, noch immer schwitzend, den heißen Kaffee neben mir, den Judith niemals auch nur angerührt hätte, da sie den Kaffee von Starbucks nicht leiden kann: Dupont Circle

Baltimore

Anza-Borrego Desert State Park

Primm

Schlosspark Nymphenburg

Dann komme ich nicht weiter. Es ist überhaupt keine Liste. Es ist eine Aneinanderreihung von Namen, so wie ihre Schuhe im Flur unserer Wohnung in München eine Aneinanderreihung von geträumten Spaziergängen sind. Wie Spaziergänge, die jemand ohne sie gemacht hat und von denen er noch immer nicht wieder zurückgekehrt ist. Sie stehen in aller Gelassenheit und Friedlichkeit nebeneinander. Ich könnte die orangenen Turnschuhe wegwerfen, obwohl ich diese Schuhe, die ich an ihr eigentlich nicht leiden kann, jetzt von allen Schuhen am meisten mag. Die Liste müsste strenggenommen mit Marburg beginnen, wo wir das Fahrrad gekauft haben, oder mit Paris, als wir mit dem Nachtzug angekommen sind und uns der aalglatte, pickelige Autovermieter einen Smart mit offenem Verdeck andrehen will, obwohl wir eigentlich einen doppelt so großen Wagen reserviert haben. Und dann ist Kyra gar nicht da, sondern mit ihrem Liebhaber nach Brüssel gefahren. Sie könnte aber auch mit dem Port Authority Bus Terminal beginnen, wo wir uns zum letzten Mal gesehen haben und wo zum ersten Mal eine Verabschiedung auf groteske Weise schiefgegangen ist. In diesem Moment tue ich noch so, als würde dieser Ort, der doch nur wenige Straßenkreuzungen von mir entfernt liegt, gar nicht existieren. Die Orte, unsere Orte, sind tatsächlich der Schlüssel, die Lösung für das ganze Problem.Ihr hochgebundenes Haar im Flugzeug von Paris nach

München, drei Reihen vor mir, da wir keine Sitzplätze

nebeneinander gefunden haben.

Ihre Blicke oder dieser eine Blick, den sie mir zuwirft,

kurz nachdem wir gestartet sind, in 576 Meter Höhe.

Ihr glühendes Gesicht in dem Seafood-Restaurant in

Valparego, als wir nach zweistündigem Herumirren endlich

etwas gefunden haben, das meinen Ansprüchen genügt.

Der Eindruck von Glück, als sie endlich bestellen kann.

Wie sie bestellt …

Wie sie mich anlächelt, unsicher in einem Zustand sich

abzeichnender Demütigung, in dem Augenblick, in unserer

Gästewohnung, als ich …

Wie sie den Riemen ihrer Tasche hochzieht in der Lucien-Freud-Ausstellung,