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Die U-Bahn fährt ein. Ich muss mich entscheiden. Soll ich einsteigen? Oder soll ich doch mit dem Taxi fahren?» Ich verstehe, dass Sie mir das erzählen wollen«, sage ich zu Lambert.»Aber wir haben jetzt nur noch fünf Minuten, und ich denke, es ist das Beste, wir verschieben es und sprechen das nächste Mal darüber.«»Das nächste Mal?«, wiederholt Lambert. Ich halte die Luft an, schaue zu, wie der Zug einfährt und langsam zum Stehen kommt.»Wieso können wir die Stunde nicht überziehen, wieso können wir nicht länger machen?«, fragt Lambert. Ich würde gerne wissen, welche Ursachen der Karriereknick seines Vaters hat, halte mich aber mit Fragen zurück. Lambert mokiert sich darüber, wie sein Vater sich bei öffentlichen Auftritten verhält und wie ungepflegt er immer aussieht. Dann wieder beklagt er, dass er in seinem ganzen Leben noch kein einziges persönliches Gespräch mit ihm geführt hat und dass sein Vater ihn immer im Unklaren darüber lässt, was er denkt und was er empfindet.»Aber ich kann Ihnen sagen, woran er gescheitert ist«, sagt Lambert. Ich lasse ihn nicht zu Wort kommen. Ich erkläre ihm, dass wir das nächste Mal darüber reden. Ich versuche es langsam angehen zu lassen. Ich sage mir:»Du schaffst das schon mit dem Flug. «Und ich frage mich:»Was ist eigentlich in Baltimore genau passiert?«Morgens um halb sieben, als ich mich zögernd und dann immer entschlossener vom Hotel entferne, das wir spät in der Nacht nach einem langen Fußmarsch doch noch gefunden haben. Ich verlasse das Hotel, so wie ich damals heimlich unser Schlafzimmer verlasse, um im Englischen Garten nach dem verlorenen Turnschuh zu suchen. Morgens um halb sieben. Ich hinterlasse noch nicht einmal eine Nachricht. Vielleicht denke ich, dass ich in ein paar Minuten wieder zurück bin.»Ach egal«, sagt sie, als wir einen der orangenen Turnschuhe bei unserem nächtlichen Spaziergang verlieren. Es macht ihr nichts aus, wenn sie etwas verliert. Gegenstände bedeuten ihr nichts, obwohl sie ständig irgendetwas kaufen möchte und nach irgendetwas Sehnsucht hat. Es ist ein No-Name-Turnschuh, ein im Grunde hässlicher Schuh, den sie bei einer ihrer Shopping-Touren erstanden und in den sie sich vielleicht gerade deswegen verliebt hat, weil er so billig und schäbig ist. Manchmal denke ich, hoffentlich gehen sie bald kaputt, hoffentlich ist es mit den orangenen Turnschuhen bald vorbei, und dann schleiche ich mich morgens aus dem Haus, um im menschenleeren Englischen Garten nach ihm zu suchen. Verlasse ich deswegen auch unser Hotel in Baltimore? Um ihr eine Freude zu machen? Wir laufen nachts barfuß durch den Englischen Garten.»Fühlst du, wie weich das Gras ist?«, fragt Judith. Wir bekommen einen Lachanfall, als wir merken, dass wir ihn verloren haben. Die Schuhe sind eigentlich auf dem Gepäckträger des Marburg-Fahrrads verstaut, aber einer der orangenen Turnschuhe fällt herunter.»Das ist ein schlechtes Omen«, sagt Judith.»Jetzt ist das Paar nicht mehr vollständig. «Der Verlust eines Gegenstandes löst in ihr nichts aus, während es für mich eine existenzielle Bedrohung darstellt. Schon allein der Gedanke, sie könnte etwas verlieren, macht mich nervös. Und sie verliert oft etwas, sie hätte auch das grüne Schmuckkreuz verloren, genauso wie sie den Zehenring verloren hat, den wir bei unserer Reise in der Wüste gekauft haben. Wir entdecken ihn in einem heruntergekommenen Andenkenladen in der Nähe von San Diego. Es ist ein Ring mit einem aufgeklebten Plastikdiamanten für sieben Dollar fünfzig, und wir kaufen ihn eigentlich nur, weil das andere Paar, das in seinem weißen Ford Voyager die ganze Zeit hinter uns herfährt, plötzlich anhält und auch aussteigt. Sie lässt ihn einfach auf dem Badewannenrand in einem Hotelzimmer in Primm liegen.»Das ist nicht so schlimm«, sagt sie, als sie bemerkt, dass der orangene Turnschuh weg ist.»Das ist nicht so schlimm?«, wiederhole ich. Ich will das Fahrrad für sie schieben, damit sie suchen kann, aber sie klammert sich an den Lenker fest.»Dann musst du Paartherapie mit ihm machen.«»Mit ihm?«»Mit dem Schuh.«»Aber es ist nur einer.«»Ja, deswegen musst du ihm helfen. «Es ist in der Nacht, in der Kyra ihre Abschiedsparty feiert. Judith hat die Idee, durch den Park zu laufen, weil sie glaubt, ich hätte zu viel getrunken, um mit dem Auto zu fahren. Aber in Wirklichkeit habe ich natürlich nichts getrunken.»Ich soll dem Schuh helfen?«, frage ich.»Du darfst nicht Schuh zu ihm sagen, es ist ein Turnschuh. Hilf ihm. «Sie stützt sich auf dem Lenker ab, sie hat zu viel getrunken, sie kann kaum noch weitergehen.»Aber wir müssen erst den anderen finden«, sage ich, und wir laufen wieder zurück, aber sie hat schon nach ein paar Metern keine Lust mehr.»Versprichst du, dass du Paartherapie mit ihnen machst, wenn du ihn gefunden hast?«, sagt sie noch, aber wir finden ihn nicht. Am nächsten Tag bin ich kurz nach Sonnenaufgang im Englischen Garten, um nach ihm zu suchen. Ich verlasse das Haus, so wie ich das Hotel verlasse, heimlich, ohne dass ich ihr etwas davon sage. Ich suche über eine Stunde und werde immer nervöser, als die ersten Jogger aus den schattigen Waldstücken herauspreschen und anfangen, ihre Runden zu drehen. Als ich später nach Hause zurückkehre und sie noch immer schläft, gehe ich ins Badezimmer, reinige den Schuh und stelle ihn dann neben sie aufs Kopfkissen. In Baltimore lasse ich sie drei Stunden allein. Ich bringe ihr nichts mit. Nicht einmal ein billiges Schmuckkreuz. Ich habe das Gefühl, dass wir unbesiegbar sind, als ich durch den Englischen Garten laufe. Uns kann nicht das Geringste passieren, denke ich, während ich angestrengt auf den Boden starre, und dann sage ich mir:»Dieser verfluchte Schuh, hoffentlich finde ich ihn.«

Ich steige ein. Ich schaffe es, oder ich schaffe es nicht. Ich ziehe das Gepäck hinter mir her und suche mir einen Platz in der Nähe einer Tür. Es sind neun Stationen, die ich mit dem L-Train fahre, neun Stationen bis ich umsteigen muss. Diese Ausweglosigkeit hat mit einem Mal etwas Beruhigendes. Als ich durch die leeren Straßen von Baltimore laufe, denke ich nicht an Judith. Ich bin froh, dass ich aus dem Hotelzimmer raus bin. Selbst die noch geöffneten Nachtclubs und Bars haben etwas Ernstes und Tiefgründiges. Als wäre dort nachts besonders hart und intensiv gearbeitet worden. Die quadratische Anordnung der Häuserblöcke und das Gitternetz der rechtwinklig angelegten Straßen, die Gleichförmigkeit ihrer Kreuzungen wiegen mich in Sicherheit und betäuben mich. Ich entferne mich mit dem Gefühl, dass ich jederzeit in unser Hotel zurückkehren kann. Judith schläft, sie hat sich in ihrem Jogginganzug unter der Bettdecke verschanzt. Sie schläft, raune ich mir zu. Kein Problem. Du brauchst dich nicht um sie zu kümmern, brauchst dir keine Gedanken um sie zu machen. In einer plötzlichen Vision sehe ich mich in dem morgendlichen Halbdunkel des Zimmers einer Gestalt gegenüber. Ein ungebetener Besucher, der vor mein Bett tritt. Es ist weniger eine Gestalt als ein Gebilde. Eine halb röhrenförmige halb abstrakte Struktur, die sich vergrößert, wenn man mit ihr in Kontakt zu treten versucht. Dann aber wird sie ungreifbar und verliert alle Dimensionen. Eine solche Gestalt, ein solches Gebilde einen» Besucher «zu nennen, ist natürlich nur ein ironischer Bewältigungsversuch, so wie ich einmal einer Klientin geraten habe, ihren Ängsten Namen zu geben, um sie einerseits zu identifizieren, aber andererseits auf spielerische Weise mit ihnen umzugehen und sozusagen mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ein schmaler Streifen Licht wird zwischen den Vorhängen sichtbar, fließt langsam über den Teppich ins Zimmer. Das Fenster bildet eine breite großzügige gläserne Front, die an der stählernen Gebäudekante scharf nach links abbiegt und parallel zu der Bettseite, auf der Judith schläft, weiterverläuft. Der Besucher bleibt anonym, er nimmt keine menschlichen Züge an. Aber es ist eine andere Angst als meine Angst, den Flug zu verpassen. Oder meine Angst auf dem Dupont Circle, als ich in der Mittagspause eine Stunde lang auf Judith warte. Es ist eine haltlose und konfuse Angst. Eine Angst, gegen die ich nichts ausrichten kann. Als ich mich entscheide, aufzustehen und spazieren zu gehen, denke ich noch, dass ich sie einfach vertreiben kann. Ich stehe auf und verlasse das Hotel. Ich ahne schon, dass ich nicht so schnell zurück sein und dass ich mich an diesen Spaziergang noch lange erinnern werde. Der Dampf, der aus dem Gulli steigt, das katzenhafte Herumschleichen eines Polizeifahrzeuges in einer Seitenstraße, in die ich hineingehe, weil sie mir auf interessante Weise verkommen erscheint. Die Blicke von Obdachlosen, die durch mich hindurchschauen, die Visitenkarten der Prostituierten, die zwischen den Glassplittern auf dem Boden vor einer kaputten Telefonzelle liegen. Am Abend zuvor sitze ich mit Judith, nachdem wir das Fischrestaurant verlassen haben, in einer Bar in Little Italy, und ich versuche, wie ich es mir schon auf dem Flug nach Washington vorgenommen habe, ihr zu erklären, wie sehr ich sie liebe. Und dass sie ihr Praktikum auf der Stelle abbrechen und zurück nach München kommen soll. Im Fischrestaurant fällt der Strom aus, für wenige Sekunden, dann schaltet sich der Notstromgenerator ein.»Ich würde jedenfalls nicht so einfach ins Ausland gehen, nur weil ich mit meinem Leben nicht zufrieden bin«, sage ich in Gedanken zu ihr. Oder, wenn man es anders ausdrücken würde: Ich halte es ohne dich nicht aus. Ein Satz, für den ich aber noch einen Ort suche und schließlich denke, ich müsste ihn außerhalb der Stadt finden. Der Hafen ist eine Enttäuschung. Es gibt keine richtige Promenade, jedenfalls finde ich sie nicht und laufe die ganze Zeit auf der falschen Seite, an langen hölzernen Piers und Aufbauten vorbei, in denen Restaurants und Bars untergebracht sind, die aber jetzt alle leer stehen. Der eigentlich interessante Teil des Hafens ist auf der gegenüberliegenden Seite.»Ich halte es ohne dich nicht aus. «Es ist kein Satz, den man einfach so sagt. Es ist ein Satz, auf den man hinarbeitet, auf den alles zuführt. Ich sage ihn nicht. Ich bringe ihn nicht über die Lippen. Auch nicht in Little Italy, in der Bar, in der wir später einen Drink nehmen. Die Bar gehört einer ehemaligen Opernsängerin, und der schwere, glitzernde Halsschmuck auf ihrer höckerartigen Brust erweckt den Eindruck, als sei er aus ihren Knochen herausgeschnittenes Licht. Sie arbeitet nur zum Spaß. Dafür hat sie sich die Bar auch gekauft. Es scheint ganz einfach zu sein. Ich sage es ihr. Ich warte den richtigen Moment ab, finde den richtigen Ort. Tatsächlich hat sich unsere Stimmung aufgehellt durch den skurrilen Stromausfall im Fischrestaurant, der nur das oberste Stockwerk des Restaurants betrifft, während der untere hell erleuchtet bleibt. Ein umgeknickter Strommast in der Nachbarschaft. Bei unserem Spaziergang vom Restaurant in das in der Nähe gelegene Little Italy kommt Judith wieder zu Kräften. Ich habe alles versucht, um den Abend zu verderben. Das endlose Telefonieren am Bahnhof, meine Forderung, zu Fuß zu gehen, die quälend lange Debatte darüber, ob das Hotel, in dem wir übernachten, nicht zu unpersönlich ist. Ob wir nicht etwas Schöneres finden können.»Ich halte es ohne dich nicht aus. «Ich hätte den Satz rückwärts aufsagen und mit seinem Ende, mit seiner Pointe beginnen können. Ich warte zu lange. An einem kleinen Hafenbecken, das ich schließlich nach endlosem Herumirren erreiche, bleibe ich eine Weile stehen. Ein Motorboot tuckert durch das Wasser und sammelt den Müll auf. Hunderte von Plastikflaschen schwimmen im Wasser, um die herum ein großer schlauchartiger Ring ausgeworfen worden ist. Ich beobachte das Boot, wie es seinen Fang hinter sich herzieht und das kleine Hafenbecken wieder verlässt. In diesem Moment vergesse ich, warum ich überhaupt nach Baltimore gekommen bin. Stehe ich wirklich eine Stunde am Hafen und schaue einem Müllentsorgungsboot zu, wie es leere Plastikflaschen hinter sich herzieht, als wollte es diesen Flaschen helfen, ihre gar nicht vorhandene Botschaft auf dem offenen Meer noch schnell loszuwerden. Sonntagmorgens, bevor der Gottesdienst anfängt? Welche Gedanken gehen mir in diesem Moment durch den Kopf. Der Gedanke: Ich kann den Satz» Ich halte es ohne dich nicht aus «nicht sagen? Oder kann ich die Anwesenheit von Judith, von der ich mich unter keinen Umständen trennen will, nicht mehr ertragen?