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Auf dem Weg zum Hafen oder vielleicht schon auf dem Rückweg, als mit der zunehmenden Helligkeit und dem Verschwinden des morgendlichen Dunstes mein schlechtes Gewissen zurückkehrt und ich beschließe, sofort zum Hotel zurückzugehen, entdecke ich eine kleine Kirche. Ohne es zu wollen, bin ich nach Little Italy gegangen. Die ersten Besucher, wahrscheinlich italienischstämmige Bewohner von Baltimore, haben sich versammelt, aber die Kirche noch nicht betreten. Plötzlich entdecke ich auf einer an der Kirchenwand angebrachten Marmortafel Judiths Familiennamen. Es ist ein seltener Name, und ich bin für einen Moment vollkommen elektrisiert und denke, dass ich bei meinem Herumirren durch Baltimore endlich eine Spur gefunden habe, die beweist, dass es in der Familie von Judith außer ihrer Tante noch andere Auswanderer gibt. Und dass sich ihre komplizierten Familien- und Abstammungsverhältnisse vielleicht aufklären lassen. Mehrere Minuten vergehen damit, dass ich alle Namen, die dort stehen, in mein Notizbuch schreibe. Die Schwere der Nacht fällt von mir ab, ich schreibe diese Namen auf. Ich schreibe mich in die Vergangenheit von Judith hinein, in ihre Familiengeschichte, die Geschichte ihrer Vorfahren, zumindest die, die ich dafür halte. Judith selbst liegt in diesem Moment im Bett und schläft. Ich könnte mit diesen Namen zu ihr zurückkehren, sie wecken und ihr davon erzählen. Ich könnte wie ein Bote aus der Vergangenheit ihrer Familie an ihr Bett treten und ihr erklären, wie sehr ich sie liebe, ihre Vorfahren, ihre Großväter, Großmütter, Großonkel und Großtanten oder zumindest mich für sie interessiere. Ich würde an ihr Bett treten und ihr die Liste aus meinem Notizbuch vorlesen und sie danach zu dieser kleinen Backsteinkirche in Little Italy bringen. Die Kirche sieht wie meine alte Grundschule aus, und die müden Gesichter der Italo-Amerikaner, die sich zu dem Backsteingebäude schleppen, sind ein matter Nachhall meiner tristen Schulzeit. Wohingegen ich mir jetzt wie ein fleißiger Schüler vorkomme, der in letzter Sekunde seine Schulaufgaben macht, sich alles aufschreibt, alle Namen und Verbindungen, aus denen Judith besteht, aus denen sie hervorgegangen ist. Ich könnte zurücklaufen, zurück ins Hotel, aber ich tue es nicht.»Siehst du«, könnte ich sagen,»ich habe heute Morgen deinen Namen gefunden, ist das nicht wundervoll? Ich möchte, dass du diese kleine Kirche siehst. «Ich schreibe die Namen zwar auf, schreibe sie aber so auf, als wären sie Teil einer Geschichte, in der später auch Judith vorkommt. Die Gemeindemitglieder, die Gründerväter und ihre Angehörigen, die im Krieg gefallenen Soldaten, alle, die denselben Namen haben wie Judith. Ich schreibe sie für eine ferne Zukunft auf, für einen Moment, in dem ich mir selbst diese Geschichte erzähle. Statt dass ich ins Hotel zurückgehe und ihr davon erzähle. Aber ich stehe wichtigtuerisch, Name für Name in mein Notizbuch übertragend, vor der schwarzen Marmortafel neben der niedrigen Eingangstür der Kirche, der sich die gebrechlichen Gemeindemitglieder vorsichtig nähern.»Was wird Judith wohl dazu sagen, wie wird sie wohl darauf reagieren?«, denke ich noch, als hätte ich ernstlich vor, ihr davon zu erzählen.

Es ist ein Moment des Entspannens. Ein Augenblick, in dem ich mich treiben lasse. Montrose Avenue. Bushwick Avenue. Morgan Avenue. Orte, an denen ich noch nie gewesen bin, obwohl sie ganz in der Nähe von Williamsburg sind. Ich hätte mit dem L-Train leicht einmal hinfahren können. Ich hätte nach Washington fahren können, morgens direkt nach der Dampferfahrt. Es fängt alles morgens an, als ich ins Taxi steige. Als ich nicht zum Bahnhof fahre. Als ich das Hotel in Baltimore verlasse. Als ich spazieren gehe. Es fängt immer morgens an. Warum verlasse ich in München morgens unsere Wohnung? Ich fahre zu einem Café in die Lindwurmstraße oder zu einem Café am Sendlinger Tor. Die wenigen Minuten, die mir bleiben, die losen Enden meiner verschiedenen Lebensbereiche, die grünstichige Leere meiner Praxis und die aufwallenden Gebirge, die ungestüm aufgeworfenen Laken unseres Schlafes zu verbinden. Manchmal bestelle ich mir einen zweiten Kaffee, oder ich sitze da und fühle mich außerstande, das Café wieder zu verlassen. Judith ist zu Hause. Sie studiert ihre aus dem Internet ausgedruckten Texte über das Nomadentum. Arid Climate, Adaptation and Cultural Innovation in Africa. Sie korrigiert Fußnoten in ihrem Darfur-Aufsatz. Es kommt mir vor, als läge sie auf dem Boden neben dem Bett, als hätte ich sie aus dem Bett gestoßen. Wie immer geht es darum, dass ich die Praxis aufgebe, und zwar nicht in einem, wie es professionell sinnvoll wäre, systematischen» Ausschleichungsprozess«über mehrere Jahre, in denen ich keine neuen Klienten mehr annehme, die alten aber noch zu Ende therapiere und die Praxis dann verkaufe, sondern von heute auf morgen oder, wie ich zu sagen pflege,»übers Wochenende«. Ich gebe alles auf, ich schmeiße alles hin. Judith liegt auf dem Fußboden. Ich sitze im Café. Ich möchte zu ihr zurückkehren und möchte mich bei ihr entschuldigen, weil vielleicht der Eindruck entstanden ist, ich würde sie nicht genug lieben.»Aber das stimmt nicht«, würde ich sagen, als gäbe es einen Dritten, der ihr das, während sie schläft, ins Ohr geflüstert hat.»Es ist nicht wahr. «In Baltimore, im Gitternetz der rechtwinkeligen Straßen, die mein Leben in Entscheidungsanordnungen unterteilen. Wieder runter zum Hafen? Oder hoch zum Hotel in den vierzehnten Stock zu meiner schlafenden Freundin? Ich würde die Klienten aus meiner Praxis vertreiben, sie einzeln hinauskatapultieren. Ich würde Lambert hinauswerfen, und das wäre noch das Beste für ihn. Ich würde ihn anrufen und ihm mitteilen, dass ich nichts mehr für ihn tun kann und dass die Therapie zu Ende ist. Die Sonne kommt heraus, ich stehe auf einer Straßenkreuzung, gar nicht so weit entfernt vom Hotel. Noch immer habe ich kein Café gefunden, in dem ich mit Judith frühstücken könnte. Schon auf der Zugfahrt nach Baltimore hat sie mir zu verstehen gegeben, dass sie über die Pläne zur Auflösung meiner Praxis nichts mehr hören will. Will ich sie jetzt dafür bestrafen? Ich stehe auf der Kreuzung, eine schon geöffnete Dunkin’-Donuts-Filiale zu meiner Linken und ein Bürogebäude zu meiner Rechten. Das Hotel ragt vor mir auf. Ich weiß von seiner Anwesenheit, seinem kostbar gehüteten Schatz. Aber ich kehre nicht zu ihm zurück.