«Und was soll ich jetzt tun?«, fragt Lambert.»Soll ich jetzt zwei Wochen abwarten und nichts tun?«Es ist eine ungünstige Tageszeit. Ich lege meine Stunden lieber in den Nachmittag oder in den Abend. Nur in Ausnahmefällen mache ich einen Termin am frühen Morgen.»Da können wir jetzt auch nichts mehr machen«, sage ich zu ihm.»Es hat keinen Sinn, wenn wir jetzt noch mit einem neuen Thema anfangen. «Kurz vor meiner Abfahrt, in der letzten Stunde fängt er damit an. Er erzählt mir von seinem Vater, dessen beruflichen Niedergang er mir immer wieder als Erklärungsmodell anbietet. Der eigentliche Grund für seine Stimmungsschwankungen, seine Insuffizienzgefühle, seine, wie er selbst sagt,»suizidalen Träume«. Und er will mir erzählen, was wirklich mit seinem Vater passiert ist. Ein Geheimnis, das eigentlich niemand erfahren darf. Ausgerechnet in der letzten Stunde, bevor ich nach New York fliege, behauptet er auf einmal, alles, was er mir bisher erzählt habe, sei falsch und würde nicht stimmen, es sei reine Erfindung und sei im Grunde der Versuch, seinen Vater, der als Berufspolitiker bis vor kurzem im Rampenlicht der Öffentlichkeit gestanden hat, vor mir zu schützen und ihn, wie er sagt,»in Sicherheit «zu bringen. Damit wäre es aber jetzt vorbei. Und von jetzt an würde er die Wahrheit sagen. Noch jetzt ärgere ich mich darüber, dass ich mit so einem schwierigen Klienten am frühen Morgen einen Termin mache. Ich bin nicht überrascht, dass die Geschichten, die er mir von seinem Vater erzählt, nicht stimmen oder zumindest nicht vollständig sind.»Wir können gerne über Ihren Vater sprechen«, sage ich, schon im Stehen, um ihm ein klares Zeichen zu geben.»Aber heute wird es nicht mehr gehen. «Ich schaue nach draußen auf den kleinen Innenhof. In den Räumen des medizinischen Fachbuchverlags geht das Licht an. Die Glastür zu der Metalltreppe, die zum Innenhof führt, steht offen. Manchmal sitzt dort auf dem obersten Treppenabsatz jemand und raucht oder schnappt ein bisschen frische Luft. Als hätten sich alle stillschweigend darauf geeinigt, wird der Innenhof aber so gut wie von niemandem betreten. Es gibt keine Pflanzen dort, keine Bäume, nichts, außer einem alten Klappstuhl, der direkt neben der Treppe steht. Ich suche nach einer Lösung, einem versöhnlichen Ausklang der Stunde, etwas, das ich Lambert mit auf den Weg geben kann. Die Bäume im Innenhof der Nationalbibliothek von Paris sind mit Stahlseilen am Boden festgemacht, und man kann um den Garten herumlaufen, aber betreten kann man ihn auch nicht.»Ja und?«, fragt Lambert, der immer noch auf seinem Stuhl sitzt und darauf wartet, wie ich auf seine Provokation reagiere.»Was passiert jetzt? Wollen Sie mich nicht rausschmeißen?«Er sagt, er würde nicht eher die Praxis verlassen, als bis ich ihn angehört habe. Ich bin in Gedanken in Paris. Die Bäume, die die Lesesäle leicht überragen, die sich schwankend bewegen, wenn man ihnen lange genug zuschaut und es ein windiger Tag ist. Ich schaue auf den Klappstuhl. Die Mitarbeiterin des medizinischen Fachbuchverlags hat ihn damals dort unten vergessen, und von den Verlagsräumen aus kann man ihn nicht sehen. Ein paar Mal habe ich schon daran gedacht, ob ich nicht jemand darauf aufmerksam machen soll, aber dann ist mir der Stuhl zu einem lieben Gegenstand geworden, den ich nicht missen möchte. Die Lackschicht auf der Sitzfläche des Klappstuhls ist schon abgeblättert, und die dünne blonde Frau mit den knochigen Beinen, die sich dort in den Schatten gesetzt hat, um zu lesen, sehe ich in meiner Erinnerung immer noch, wie sie das Buch sich ganz nah vors Gesicht hält. Sie hat den Klappstuhl einfach mit nach draußen genommen. Und jetzt, ein Jahr später, steht er immer noch da. Noch in New York, als ich morgens von der Party in Queens nach Hause zurückkehre und auf dem Bett sitzend meinen Computer anschalte, um kurze Zeit später Anne kennenzulernen, kommt mir alles wieder hoch, was Lambert zu mir gesagt hat, alles, was er mir in diesem wahnsinnigen Monolog entgegenschleudert. Nach der Dampferfahrt bin ich so erschöpft, dass ich den Schnauzbärtigen, der in Queens der Gastgeber ist, frage, ob ich mich nicht irgendwo hinlegen kann. Das garagenartige Schlafzimmer liegt in einem cremefarbenen, bleichen Schatten, als ich mitten in der Nacht wieder aufwache.»Wir haben jetzt noch fünf Minuten«, sage ich zu Lambert, während ich meinen Blick langsam von dem im Innenhof stehenden Klappstuhl die Metalltreppe hoch bis zu Glastür des medizinischen Fachbuchverlags wandern lasse. Die Tür ist geschlossen.»Vielleicht machen wir hier einfach einen Punkt. «Und dann bricht es auf einmal aus ihm heraus. Als würde nicht er sprechen, sondern irgendeine Instanz, irgendjemand, der sich seiner bemächtigt und ihn mit aller Kraft gegen mich in Stellung gebracht hat. Es ist genau das, was ich ihm später auch erkläre, als ich ihn zur Tür geleite und er mich fragt, ob ich jetzt» schockiert «sei.
Der Geruch von Vanille. Das ist der Geruch, den Lambert mit der Frau an der Trambahnhaltestelle assoziiert, von der er mir einmal erzählt hat. Der Geruch eines Menschen, mit dem er noch nie ein Wort gesprochen hat.»Ich weiß, warum seine Karriere kaputtgegangen ist«, sagt er.»Ich weiß es. Aber Sie wollen es ja nicht hören. «Eine Frau mit einer dünnen Aktentasche aus Wildleder auf dem Schoß, die neben mir im L-Train sitzt, riecht auch nach Vanille. Ein Kollege in meiner Supervisionsgruppe hat mir einmal erklärt, Frauen, die ein Parfum mit Vanilleextrakt benutzen, hätten bei Menschen, die als Kind nicht richtig gestillt wurden, besonderen Erfolg, da der Geruch von Vanille mit der Muttermilch assoziiert würde.»Welches Parfum benutzt ihre Mutter?«, könnte ich Lambert fragen, aber ich will ihn nicht unnötig provozieren. Die Gesichter der anderen Fahrgäste sind auf verdächtige Weise ausgeruht. Sie sehen aus, als gäbe es die Hitze gar nicht. Als gäbe es auch keine oberirdische Welt, sondern das hier unten sei unser natürlicher Lebensraum, in dem wir mit gleichmäßiger Geschwindigkeit unserem jeweiligen Ziel entgegenstreben. Die Frau mit der Wildledertasche könnte Anne sein. Im Profil hat sie große Ähnlichkeit mit ihr, obwohl ich mir Anne nicht in der U-Bahn vorstellen kann, schon gar nicht mit einer Wildledertasche auf dem Schoß, die Hände demütig über dem goldenen Verschluss ihrer Tasche zusammengefaltet.»Sind Sie gestillt worden als Kind?«, könnte ich Lambert fragen. Die Frau neben mir hat auffallend große Brüste. Es sind die Brüste, die Anne, die polnische Prostituierte, die ich im Internet kennenlerne, nicht hat. Die großen Brüste, die fehlen und die uns beinahe zum Verhängnis werden, in Greenpoint, einem Nachbarstadtteil von Williamsburg. Obwohl die letzte Stunde mit Lambert schwierig und in gewisser Weise deprimierend gewesen ist, empfinde ich sie doch als Fortschritt und habe das Gefühl, dass, nach all dem, was ich versucht und an Energie investiert habe, etwas in Bewegung geraten ist. Er wird es immer wieder versuchen. So wie die E-Mail, die er mir geschickt, oder den Zettel, den er mir auf den Schreibtisch gelegt hat. Immer dann, wenn ich das zulasse, wenn ich eine Grenzüberschreitung erlaube, begebe ich mich auf ein gefährliches Terrain und bringe auch ihn damit in Gefahr.»Thomas Kaszinski«, sagt er.»Ich habe Ihren Namen noch nie ausgesprochen, ich sage immer nur ›mein Therapeut‹ oder ›der Therapeut‹. Finden Sie das nicht komisch?«Ich lächele ihn an, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was als Nächstes kommt. Er richtet sich auf:»Soll ich Ihnen mal was sagen?«Er schaut mich herausfordernd an.»Aber es interessiert Sie ja sowieso nicht, was ich von Ihnen denke.«