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Es ist am frühen Morgen, als ich das Hotel verlasse. Es ist am frühen Morgen, dass Lambert in meiner Praxis die Nerven verliert. Am frühen Morgen, als ich aus Queens zurückkomme und auf einmal eine sexuelle Phantasie habe, nachdem mich der Taxifahrer, den der Schnauzbärtige mit seinem elfenbeinfarbenen schnurlosen Telefon gerufen hat, vor der Haustür abgesetzt hat. Ich fahre nicht nach Washington. Ich bleibe zu Hause. Es ist sieben Uhr. Kurz nach acht, als Lambert in die Praxis kommt. Halb sieben in Baltimore. Sechs Uhr zwanzig, als ich an die Bar mit der Fransen-Stehlampe in der Grand Street denken muss. Es passiert immer morgens. Als würde der Übergang, der Wechsel von der Nacht in den Tag, nicht richtig funktionieren, als würde dabei etwas schiefgehen. Das Licht, in das man hineintritt wie in eine fremde Welt, die über Nacht eine andere Gestalt angenommen hat und jetzt in aller Härte und Klarheit erstrahlt. Das Licht des Morgens.»Ich bin nicht so sehr an Brüsten interessiert«, schreibe ich in meiner ersten E-Mail an Anne,»aber wenn sie wirklich so schön sind und deine Freundin sie so gerne berührt. «Ihre Freundin spricht kein Englisch, sie kann noch nicht mal bitte oder danke sagen. Vielleicht ein besonders perfider Versuch der Verführung.»Ist sie auch da?«, frage ich. Ich denke in diesem Moment nicht an Geld, nicht an die finanziellen Konsequenzen. Das Licht. Es kann ein hoher blauer Ton sein. Ein bleiches, graues Lauern. Bei meinem Spaziergang in Baltimore steigt es in meinem Rücken langsam hinter mir nach oben. Es steigt mit einer Geschwindigkeit, die man nicht sehen kann.»Wirklich?«, frage ich Anne.»Sie sind wirklich so groß? To be honest«, schreibe ich,»I am not into breasts. «Und» breasts «hört sich in diesem Moment etwas komisch an. Anne schreibt:»My girlfriend is into them.«»Ist sie da?«, schreibe ich im Laufe unseres mehrstündigen Gedankenaustauschs. Das Licht des Morgens. Das Licht der am offenen Herzen vorgenommenen Operation. Das Licht, das durch die Träume gewaschen, von der Schuld und den Versäumnissen der Nacht gereinigt worden ist. Es hat sich über Nacht nach oben gekämpft, und jetzt triumphiert es. Es tastet sich an den uringesprenkelten Häusersockeln hoch. Es ist gläsern und schon zersprungen. Es ist die scharfe Kante eines Gedankens, den man noch nicht gefasst hat. Es legt sich um mich wie ein Griff und zieht mich nach unten. Zwei Stunden später, als ich in Greenpoint ankomme, einem Stadtteil, der direkt neben Williamsburg liegt, als ich den unbeholfenen Verführungskünsten von Anne erliege und ihr Angebot annehme, ist das Licht schon nicht mehr so intensiv. Es ist nicht mehr das Licht von Queens, nicht mehr das Licht von New York, es ist das Licht aus meiner Kindheit. Es ist das Licht, mit dem ich geblendet worden bin.

3

Ich verbringe den ganzen Vormittag damit, Anne dazu zu überreden, zu mir nach Williamsburg zu kommen, aber sie sagt, sie mache keine Hausbesuche. Sie beeilt sich aber zu erklären, sie würde mir ohne weiteres vertrauen, und sie könne schon an der Art, wie ich schreibe, erkennen, dass ich ein Gentleman sei. Sie ist begeistert davon, dass ich aus München komme, das sie aber ohne weiteres mit Mailand verwechselt. Erst erklärt sie, sie sei gebürtige New Yorkerin, aber dann, als ich ihr sage, wie interessant ich es fände, dass sie polnische Vorfahren habe, behauptet sie, sie sei in Wirklichkeit Polin und erst seit fünf Jahren in New York. Schließlich, um die Verwirrung perfekt zu machen, erklärt sie, sie sei erst 20 und nicht 27. Als ich wenig später ganz beiläufig erwähne, sie sei ja als» Minderjährige «in ihren ersten Jahren in New York bestimmt unglücklich gewesen, macht sie einen weiteren Schwenk, indem sie zugibt, sie habe mich» ein bisschen angeschwindelt«, weil sie denkt, ich könnte wütend werden, wenn ich erführe, dass sie noch gar nicht volljährig sei. Mein Computer, von seinem Netzteil abgeschnitten, ruht auf meinem Schoß. Erst beruhigt mich die Wärme der Festplatte, dann macht sie mich nervös. Der Akku entlädt sich, während ich eine andere Frau, die in einem Hotel in der Grand Street auf mich wartet, damit vertröste, ich hätte nicht genug Bargeld.»Es gibt überall Geldautomaten«, schreibt sie mir, während mir einfällt, dass es in der Grand Street gar kein Hotel gibt.»Stört es dich, wenn meine Freundin dabei ist?«, fragt Anne.»Wie alt ist deine Freundin?«, schreibe ich zurück. Die Anzeige des Akkus weist einen Rest von 16 Prozent aus, den ich noch ausschöpfen kann. Anne erklärt sich schließlich bereit vorbeizukommen, allerdings allein, als mir einfällt, dass ich gar keine Türklingel habe und auch kein Mobiltelefon, auf dem sie mich anrufen könnte, wenn sie vor der Haustür steht. Weitere Minuten vergehen, in einem komplizierten Hin und Her, bei dem Anne und ich uns so verhalten wie ein Liebespaar, das vor nichts zurückschreckt, um ein Treffen doch noch möglich zu machen. Was bleibt mir in Erinnerung, welches Detail, welche besondere Wendung? Dass ich den Computer wie ein aufgeklapptes Buch auf dem zerwühlten Bett zurücklasse, als ich die Wohnung überstürzt verlasse. Die Warnsignale der zurücksetzenden Transporter, die die eingeschweißten Fleischstücke anliefern, die von Arbeitern mit Wollhandschuhen aus dem Wageninneren herausgeschleppt werden. Das kaputte Schloss der Haustür, in dem mein Wohnungsschlüssel steckenbleibt. Anne, die mit einer anderen Frau in Greenpoint vor dem Computer sitzt, wobei es unklar bleibt, mit welcher der beiden Frauen ich den ganzen Vormittag kommuniziert habe oder ob nicht am Ende abwechselnd mit beiden oder doch, wie ich später denke, mit einer ganz anderen, tatsächlich in Polen sitzenden Frau, die alles arrangiert? Es ist so heiß, dass ich fürchte, das Plastikgehäuse des Computers könnte schmelzen. Die Luft, mit der ich aus Queens gekommen bin, die weiche, hauchfeine, in mir aufquellende Luft presst sich zusammen. Ich laufe eine halbe Stunde herum, bis ich ein Internetcafé finde, von dem aus man auch Telefonanrufe machen kann. Ich habe die Hausnummer vergessen, die mir Anne in ihrer letzten E-Mail mitgeteilt hat. Anne will mir Bilder von ihrer Freundin schicken, aber ich sage ihr, dass ich das nicht möchte. Ich will keine Bilder sehen. Die Fotos auf den Visitenkarten in Baltimore, in der Gegend, wo die Nachtclubs sind, liegen vor der Telefonzelle zu Fächern ausgebreitet. Ich muss alle Kraft aufbringen, sie zu ignorieren. Auf einigen stehen nur Telefonnummern und keine Namen unter den Bildern der Frauen, die meist Reizwäsche tragen. Verschwommene, unscharfe Fotografien, die sich übereinanderschichten, in einem Halbkreis vor der herausgebrochenen Tür der Telefonzelle. Wie ein Blatt, das einem Spieler auf der Flucht aus der Hand geglitten ist und das sich mir jetzt anbietet. Spiel mit, biete mit. Sag, wie weit du gehst.