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Schläft Judith noch? Wir haben vielleicht noch etwas im Fernsehen gesehen, als wir nachts ins Hotel zurückgekommen sind, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich kann sie nicht einfach aufwecken. Sie braucht ihren Schlaf. Es versetzt mir einen Stich, als ich nach einer zweijährigen Pause von Gabriela erfahre, dass sie mit ihrem Freund, der immer noch bei der Telekom arbeitet, Kinder hat. Sie schreibt mir, sie habe angefangen, psychologische Ratgeber zu lesen, und dass sie davon» träumt«, eine Psychotherapie anzufangen und wie denn die» Therapietechnik «hieße, die ich anwende. Sie sagt, sie hätte bei dem Gedanken, dass doch ich sie therapieren könne, geweint. Sie leidet unter Agoraphobie, und vermutlich arbeitet sie deswegen bei Trixis, dem Schmuckgeschäft ohne Fenster, ohne Mitarbeiterkabuff und ohne Klo. Um auf die Toilette zu gehen, muss sie den Häagen-Dazs-Verkäufer bitten, ein Auge auf die in den Glasvitrinen verschlossenen Schmuckauslagen zu haben, die oft weniger wert sind als das Eis, das den ganzen Tag unter seinen Augen schmilzt. Sie leistet sich ganz selten eine Kugel, sie ist sehr sparsam. Ihre Lieblingssorte ist Apfel-Karamel. Sie sagt:»Wie kann ich dich glücklich machen?«Anna und Anne sagen:»Wie können wir dich glücklich machen?«, beziehungsweise: sie sagen es nicht, sie sind nicht in der Lage dazu, ihr Englisch reicht dazu nicht aus.»You happy here?«, fragt Anne. Ich laufe drei Stunden durch Baltimore, umkreise die Backsteinkirche in Little Italy, schlendere zum Hafen herunter und lasse den Dunkin’-Donuts-Laden links liegen, in dem wir später frühstücken, ein kurzes liebloses Frühstück, das wir im Stehen einnehmen. Anne ist kleiner und zarter, als ich gedacht habe. Am Anfang sitzen wir einfach so zusammen, und ihre Freundin verlässt mehrmals die Küche, um dann plötzlich im Bademantel zurückzukehren und uns mitzuteilen, dass die Tür zum Nebenzimmer unbedingt geschlossen bleiben muss, weil die Klimaanlage auf Hochtouren läuft. Judith und ich teilen uns einen Donut mit dem Namen» Boston Creme«, und dann suchen wir Poe-Haus. In meiner Erinnerung stehe ich in der Lobby unseres Hotels, unsicher, ob ich nach drei Stunden des Herumwanderns nach oben in unser Zimmer gehen soll. Ob Judith schon wach ist? Es scheint mir wichtig, dass sie ausgeschlafen ist, da sie doch am nächsten Tag wieder im Robert-Kennedy-Institut arbeiten muss, während ich nach München zurückfliege.»Lass sie doch ausschlafen«, sage ich mir. Ich versuche mich an das Zimmer zu erinnern. 190 Dollar die Nacht. Die Wahrheit dieser Nacht liegt woanders, vielleicht in dem Fernseher, der direkt vor dem Bett steht. Haben wir nicht doch noch einen Film zusammen gesehen, als wir abends aus Little Italy zurückgekommen sind? Daran muss ich mich doch erinnern können.

Die schweren bis zum Boden reichenden Vorhänge. Die Fenster, die sich nicht öffnen lassen, weil wir zu weit oben sind. Meine Angst, als ich morgens aufwache.»Also dann wohnst du ja ganz in der Nähe«, sage ich zu Anne. Der Raum, in dem die Klimaanlage läuft, entpuppt sich als schmaler dunkler Gang, eine Art Flur, der in ein Zimmer umgewandelt worden ist. Die Wände sind mit Kartons, Teppichen und Regalen vollgestellt. Es ist ein dunkler Schlauch, unterteilt in einen lauwarmen und in einen kühlen Bereich, in ein wohltemperiertes Vorzimmer, in dem sich Annes Bett und ihr kleiner Privatbereich befinden, und ein Hinterzimmer, das durch einen Vorhang abgetrennt ist, in dem ihre Freundin wohnt und der Computer steht. Ihre Freundin heißt auch Anne, wie Anne mir erklärt, aber» Anne mit zwei a«. Anna könnte Annes Mutter sein. Ist das das Schlimmste? Ist das das Traumatische? Der Computer in Annas Zimmer, der genauso aussieht wie mein Computer, der in der Mittagshitze jetzt langsam vor sich hin schmilzt. Die Transporter mit den eingeschweißten Fleischhälften. Der Schlüssel, der im kaputten Türschloss hängen bleibt. Ich bringe die Reihenfolge durcheinander. Ich sehe mich, in der Erinnerung, wie ich das Schlafzimmer von Anna und Anne betrete. Ich betrete es, und ich sehe Gabriela. Ich sehe Gabriela und die Fotografien ihrer Töchter. Sie hat Zwillinge zur Welt gebracht. Anonyme Gesichter von Säuglingen, die auf dem Rücken liegen und mit Plastikbuchstaben spielen, die an einem Gestell befestigt sind, sodass sie sie gerade mit ihren kleinen Fingern erreichen, sie aber unmöglich in den Mund stecken können. Dahinter Gabrielas Gesicht. Plötzlich tritt es wie ein riesiges am Straßenrand stehendes Werbeplakat hervor. Gabriela strahlt mich an. Für den Bruchteil einer Sekunde, wie eine unangekündigte Werbeunterbrechung, taucht ihr Gesicht auf. Lieber Gott, Herrgott im Himmel. Erlöse mich von dem Bösen. Es könnte der 495 oder der 278 sein, ein aus der Stadt herausführender Highway.»Was soll denn passieren, wenn Sie sie ansprechen«, frage ich Lambert am Anfang der Stunde, als noch alles ganz harmonisch verläuft. Er schüttelt fast gönnerhaft den Kopf.»Aber deswegen frage ich Sie doch«, sagt er.»Ich dachte, Sie könnten mir einen Rat geben. «Das Mädchen, das jeden Morgen an der Trambahnhaltestelle in der Paradiesstraße steht und nach Vanille riecht.»Das müssen Sie schon selbst wissen«, sage ich.»Diese Entscheidung kann ich Ihnen nicht abnehmen. «Die Kälte ist schneidend und trocknet die Sinne aus. Die Klimaanlage in Annas Schlafzimmer macht einen solchen Lärm, dass man die kleinen Seufzer, das Räuspern und das zurückgenommene und tastende Atmen nicht mehr hören kann. Geräusche, die verschwunden sind, als ich den eiskalten Raum betrete, in dem der Chatroom, dessen pastellfarbene Grafik auf dem Computerbildschirm leuchtet, wie ein improvisierter Gerichtssaal erscheint, irgendwo in einem luftleeren, ausschließlich elektronisch definierten Raum, jenseits der Weltgemeinschaft, jenseits der Vereinten Nationen, in die Judith so gerne aufgenommen werden würde.»Bitte«, sage ich zu Anne.»So geht das nicht. Dann lassen wir es lieber gleich bleiben. So kann ich das nicht tun.«

Wir sprechen nicht über Sex. Wir umgehen das Thema, oder wir überspringen es. Nur auf Autofahrten, wenn wir unterwegs sind, sprechen wir darüber. Vor allem am Anfang unserer Beziehung.»Ich fühle mich komisch, weil ich noch nicht so viel erlebt habe«, sagt Judith einmal auf der Fahrt nach San Diego, als wir ihre Tante in ihrem neuen Haus besuchen.»Was meinst du denn damit?«, frage ich, aber dann verpassen wir die Abfahrt und kommen auf das Thema nicht mehr zurück. Wie erinnert man sich? Was bleibt von den Nächten zurück, die man zusammen verbringt? Ich muss zurückrechnen. Nacht für Nacht. In einer systematischen Erinnerungsarbeit, und wenn man alles noch einmal durchgeht, findet sich vielleicht der entscheidende Moment, der Augenblick, nach dem ich schon die ganze Zeit suche. Die Nacht ist vorbei. Ich kehre ins Hotel zurück. Nach drei Stunden Selbstvergewisserung und Selbstbefragung.»Es liegt jetzt ganz an dir, wie diese Fahrt verläuft«, sage ich zu mir, während ich die Lobby des Hotels betrete und mir darüber klar werde, dass wir, auch wenn es schon halb zehn ist, noch anderthalb Stunden Zeit haben, um miteinander zu schlafen. Judith steht neben dem Bett. Fertig geschminkt, herausgeputzt und dreimal so schön wie Anna und Anne zusammen. So endet Baltimore. Oder so fängt Baltimore an. In Wirklichkeit ist Anne gar nicht so schön. Dazu muss ich nicht zwei Stunden E-Mails mit ihr austauschen, müssen nicht Hunderte von Nachrichten zwischen Williamsburg und Greenpoint, zwischen dem heißen, stickigen Schlafzimmer von Michael und Janette und dem kühlen, düsteren Schlafzimmer von Anna und Anne ausgetauscht werden. Wir haben keinen Sex gehabt. Jedenfalls nicht in Baltimore. Ich kann noch so oft auf die Uhr schauen, die Wahrscheinlichkeit, den Flug zu verpassen, eine Möglichkeit, die in meinem Leben eigentlich undenkbar ist, nimmt zu. Der bernsteinfarbene Fernsehbildschirm. Der Pay-per-View-Kanal. Der Augenblick, als wir ins Zimmer kommen und noch nicht einmal mehr die Kraft haben, den Fernseher einzuschalten. Judith schminkt sich.»Es geht nicht, tut mir leid«, sage ich zu Anne.»So macht das keinen Sinn. «Sie hat sehr kleine Brüste. Es ist gegen jede Vereinbarung, Ausdruck einer gescheiterten Kommunikation.»Möchtest du die Brüste von Anna sehen?«, fragt Anne. Anna sitzt im Schlafzimmer, den Samtumhang über die Rückenlehne des höhenverstellbaren Bürostuhls gelegt und chattet mit einem älteren Mann, einem Rentner in Polen, wie Anne mir später erzählt. Anna ist doppelt so alt wie Anne, zumindest kommt es mir so vor.»Möchtest du?«Ich spüre ihre Verletzung, ihre Demut in ihrem halb angemalten, halb inszenierten Gesicht. Ihre Brüste sind zwei rosagraue Knöpfe auf einem weißen mit Muttermalen gesprenkelten Oberkörper. Sie bietet mir ein Glas mit Melonenlimonade an. Ich schüttele den Kopf, und sie stellt das Glas auf der Kommode ab. Der Raum wirkt weniger wie ein Schlafzimmer, eher wie ein Büroraum, obwohl das Schlafsofa schon ausgeklappt ist. Mehrere türkisfarbene Handtücher sind so darauf ausgebreitet, dass die Liegefläche ganz verdeckt ist. Uns den Rücken zugewandt, tippt Anna etwas in den Computer. Sie schreibt mit Zehnfingersystem, was mich aus unerfindlichen Gründen wieder erregt.»Sie zeigt sie dir«, sagt Anne. Ich weiß nicht, wie das vonstatten gehen soll und ob ich es riskieren will, mich darauf einzulassen.»Es geht nicht«, sage ich leise zu Anne.»Es hat nichts mit dir zu tun. «Anne schaut mich an, die Muttermal-Landschaft unter ihrem Kinn, wie das Ergebnis einer künstlerischen Anstrengung, die auf rührende Weise schiefgegangen ist.»Ich lecke sie«, sagt sie.»Wie bitte?«Ich schaue sie verständnislos an, obwohl ich genau verstanden habe, was sie gesagt hat. Ich versuche, Zeit zu gewinnen, bis sich Anna umdreht und bis sich der große Bürostuhl mit den ledernen Armlehnen in Bewegung setzt und mir offenbart, für was ich noch gar nicht bezahlt habe. Das ist es, was ich mir in diesem Moment sage: Du hast noch nichts bezahlt, keinen Cent. Ich bekomme Kopfschmerzen. Ich erkenne endlich, dass mein Leben, meine gesamte Existenz sich auf einmal in nichts auflöst und sich von mir verabschiedet.