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Judith hat manchmal die Phantasie, dass ihre ganze Familie stürbe und sie dann ganz allein auf der Welt wäre. Irgendein Unglück würde passieren und alle wären tot. Ich halte es für eine Phantasie, die man nicht so ernst nehmen muss. Judith liebt Science Fiction, besonders postapokalyptische Literatur, obwohl wir schon ein paar Mal darüber diskutiert haben, was postapokalyptisch genau heißt. Ob J. G. Ballards The Drowned World postapokalyptisch ist, wenn gar nicht klar ist, ob vor der Überschwemmung der Erde überhaupt eine Katastrophe stattgefunden hat. Judith behauptet, es ginge allein um die Atmosphäre, und man müsse nicht wissen, was genau passiert sei. Ich selbst komme in diesen Phantasien nicht vor. Vielleicht weil sie meine Anwesenheit als gegeben voraussetzt oder weil sie, wie ich manchmal glaube, sich danach sehnt, dass wir beide als Einzige auf der Welt zurückbleiben und uns bis ans Ende unserer Tage lieben werden. Manchmal beobachte ich sie bei ihren Einkaufstouren, wenn sie mit lasziv ausgestreckter Hand über die Auslagen in einem Geschäft, über die rosafarbenen Türmchen gefalteter Wollpullover fährt, ihre Hand schlaff und nachgiebig, in ihrer ganzen Haltung so verträumt, als sei sie eine Prinzessin. Denkt sie, ihr gehöre das alles, sie könne das alles so ohne weiteres besitzen? Ist das der Traum, den sie träumt? Allein auf der Welt, in einem Zustand süßer Traurigkeit, nachdem um sie herum ihr zu Ehren alles vernichtet worden ist. Ein Buch, das wir zusammen gelesen haben, endet damit, dass eine Gruppe von Menschen, die eine große Katastrophe überlebt hat, eine Nachricht ins Weltall schickt. Das Ende beruht, wie Judith sagt, auf einer wahren Begebenheit. An der ersten Weltraumsonde, die 1972 die Erde und das Sonnensystem verlassen sollte, wurde auf einer vergoldeten Aluminiumplakette eine Bildbotschaft an andere Bewohner des Milchstraßensystems eingraviert. Sie gab Auskunft über das Aussehen der Absender, ihre Intelligenz und die Lage der Sonne im Verhältnis zu ihrer Umgebung. Das Bild, das wir später im Internet finden, sieht wie eine misslungene Arzneimittelwerbung aus. Die männliche Figur, die genauso wie die daneben abgebildete weibliche Figur nackt ist, hebt die Hand zu einem etwas eigentümlichen Gruß. Judith fasziniert dieses Bild. Sie findet es überhaupt nicht abwegig, dass zwei Nackte die Menschheit repräsentieren.»Stell dir vor, das wären wir«, sagt sie.»Würdest du dir wünschen, dass ich den Arm hebe und die Außerirdischen grüße?«, frage ich sie.»Ja«, sagt sie,»warum nicht? Und niemand würde wissen, dass du Therapeut bist. «Die Raumsonde ist wahrscheinlich immer noch unterwegs und braucht noch Jahrhunderte bis sie irgendjemanden erreicht, der ihre Botschaft entziffern kann. Wir schauen uns diese Filme an, lesen die Bücher, und es scheint mir, als nähmen wir sie mit einer lüsternen Gleichgültigkeit wahr und als ginge es darum, sich ganz in ihnen zu verlieren. Einmal frage ich sie, was denn genau passieren soll, wenn wir dann am Schluss ganz allein sind, und ob sie sich wünschen würde, die von uns zur Welt gebrachten Kinder würden dann ihrerseits miteinander Sex haben, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern.»Könntest du dann einfach so wegschauen?«Aber so weit denkt sie gar nicht.»Du bist viel zu genau«, sagt sie.»Und außerdem will ich gar nicht so alt werden. «Ich denke an die durch das All trudelnde Raumsonde mit der vergoldeten Aluminiumplatte und dem nackten Mann, der den Arm hebt. In Greenpoint, in dem kühlen schattigen Schlafzimmer von Anna und Anne, bin ich selbst, so kommt es mir jedenfalls vor, der letzte oder der einzige Mensch, der noch Gefühle und Phantasien hat. Anderthalb Stunden später, als alles vorbei ist, verlasse ich die Wohnung und trete in die glühende Mittagshitze von New York. Ich hebe kurz die Hand, ich verabschiede mich, ich winke Anna und Anne zu. Aber natürlich können sie mich nicht sehen.

Wenn ich Judith und ihre Freundinnen begleite, kann ich es manchmal beobachten. Sie ist das organisatorische Zentrum, die Koordinationsstelle, in ihrem Freundeskreis. Ich sehe, wie sie mit sanfter Gewalt alles unter Kontrolle hat, SMS verschickt und Termine vereinbart. Ihre Freundinnen machen sich gegenseitig Komplimente. Sie versuchen sich gegenseitig schön zu finden. An die Abende, die ich mit Judith und ihren Freundinnen verbringe, kann ich mich kaum erinnern. Warum bin ich der einzige Mann? Warum sind die Liebhaber von Kyra nie dabei? Einmal stehe ich vor der McDonalds-Filiale am Stachus und beobachte Judith, wie sie mit ihren Freundinnen um den Tisch herumsitzt, aufgedreht und glücklich, und ich sehe sie, wie sie mit den Händen in der Luft herumfuchtelt und sich dann wieder auf ihren Stuhl fallen lässt, sich vor Lachen schüttelt, als Kyra einen Kussmund macht. Sandra und Kerstin liegen sich in den Armen, und Kerstin rührt mit ihren rotlackierten Fingernägeln in der Sauce ihrer nicht aufgegessenen Chicken Nuggets herum. Ich stütze mich an der Fensterscheibe ab. Ich schaue mit einer Mischung aus Abscheu und Verzweiflung zu ihnen hinein. Und ich denke, ich muss sie aufregend finden, wie sie sich da mit Chicken Nuggets vollstopfen. Kyra ist etwas hübscher als Judith, und vielleicht gehe ich ihr deswegen aus dem Weg. Vielleicht rufe ich sie deswegen auch in New York nicht an, obwohl mich Judith darum gebeten hat. Sie ist ein paar Tage da, um ihre Mutter zu treffen, die bei der U N arbeitet. Ich spüre die Aura ihrer Promiskuität, als sie einmal, während wir Judith beim Tanzen zuschauen, zu mir sagt:»Findest du nicht, dass deine Freundin total sexy aussieht?«Ihre Mutter ist eine kleine energische Frau. Man ahnt etwas von der Kraft, mit der sie ihre großen Rettungs- und Hilfsmissionen organisiert, die sie um den gesamten Globus herum geführt haben. Kyra ist ihre Veredelung, schon am Rand der Dekadenz. Sie hat ständig irgendwelche Männergeschichten, beinahe im Wochentakt wechselt sie ihre Liebhaber.»Ruf sie doch an«, sagt Judith.»Sie ist die ganze Woche da. Ihr könnt zusammen Kaffee trinken gehen. «Ich lehne die Stirn an die Fensterscheibe des McDonalds und beobachte sie. Ich sehe, wie glücklich Judith ist, zusammen mit diesen Frauen, die sie durch Zufall kennengelernt hat, ohne etwas dafür zu tun. Kyra geht auf die Kundentoilette und übergibt sich, jedenfalls behauptet sie das, als wir später in Richtung Marienplatz laufen.»Lippenstift«, sagt Sandra langsam, die schon einmal mit Peace Brigades International in Nepal war, während sie sich mit zitternden Händen die Lippen nachzieht.»Llllipppenstift. Lll und iii und pe. «Sie schaut mich an.»Und?«, fragt sie.»Amüsierst du dich??«