Teil Drei
1
Immer dann, wenn wir unterwegs sind, wenn wir ein Ziel vor Augen haben, verstehen wir uns am besten. Wir legen Entfernungen zurück, vor denen wir sonst zurückschrecken würden. Stundenlang fahren wir, ohne auch nur ein einziges Mal anzuhalten. So als ginge es darum, sich in der Bewegung zu verflüssigen und auch innerlich beweglich zu bleiben, trinke ich ständig etwas. Auf dem Rücksitz stapeln sich die leeren Flaschen. Auf der Fahrt nach Borrego Springs, nach Primm und zu den Kelso Dünen nehme ich so viel Flüssigkeit zu mir, dass es auch Judith auffällt. Spüre ich die herannahende Krankheit, ahne ich die drohende Eskalation? Judith trinkt kaum etwas. In meiner Erinnerung nippt sie nur an ihren Getränken.»Was ist dein Lieblingsgetränk?«, frage ich sie einmal. Und sie antwortet:»Ich hab keins. «Und dann sage ich:»Aber du musst doch eins haben. «Sie wirft mir vor, ich interessierte mich nicht für Alkohol, hätte keinen Sinn für den Rausch, die Verausgabung. Sie bedauert es, dass wir nicht mehr trinken, und mit» mehr trinken «meint sie zweifellos Alkohol. Vielleicht sei ich ja deswegen so kontrolliert und asketisch, weil ich meinen Klienten gegenüber» so viel Verantwortung «empfände, dass ich mir keine» hedonistischen Momente «erlauben wolle. Ich widerspreche ihr nicht, teils aus Eitelkeit, teils weil ich gerne glauben würde, dass sie die Wahrheit sagt. Obschon alle Erkenntnisse, zu denen ein wohlwollender Beobachter kommen würde, dagegen sprechen, denn ich lasse mich genau deswegen gehen und schrecke genau deswegen vor keiner Eskapade zurück, weil ich denke, ich könne meine Klienten dann besser verstehen, und zwar in all ihren Verfehlungen, ihren Sehnsüchten und ihren zerschlagenen Hoffnungen. Ich trinke ununterbrochen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass wir auch nur ein einziges Mal anhalten. Muss ich nicht irgendwann diese ganze Flüssigkeit loswerden? Ich frage mich das im Zuge meiner Erinnerung, die mir zusehends unberechenbarer und manipulativer erscheint. Warum muss ich nie auf die Toilette? Nur einmal, es ist irgendwo nördlich des Anza-Borrego Desert State Parks, erinnere ich mich, wie ich den Wagen verlasse und Judith und ich auf einmal getrennt sind und es mir mitten in der Wüste nicht gelingt, die Straße zu überqueren. Ich versuche hinüberzukommen, aber es ist unmöglich. Wenn ich die Augen schließe und mir die Szene zu vergegenwärtigen versuche, reißt der Strom der Wohnmobile mit ihren mit Segeltuch bespannten Aufbauten und ihren mit Fahrrädern und Motorrädern beladenen Anhängern, ihren Zusatzfahrzeugen, Aufklebern, Wimpeln und Amerikaflaggen nicht ab. Und es kommen immer neue Wohnwagen, neue Sport Utility Vehicles mit Anhängern, auf denen in ritterlicher Pracht die Motorräder stehen, die mit Gummibändern festgezurrt sind. Es ist einfach unendlich, es hört nicht mehr auf, und ich schaffe es nicht, in meiner Erinnerung, diesen Strom von Fahrzeugen zu unterbrechen, ihn zu Ende gehen zu lassen. Ich schaffe es nicht, die Straße zu überqueren, ich komme nicht auf die andere Seite.
Wir fahren Richtung Nordwesten, übernachten in einem kleinen Ort nicht weit von San Diego, besichtigen eine Geisterstadt, die in Wirklichkeit ein von Familien und Touristen überflutetes Freilichtmuseum ist, fahren weiter, übernachten wieder und erreichen schließlich den Anza-Borrego Desert State Park. Wir fahren so langsam, dass jemand neben uns herlaufen könnte, wenn es in dieser Einöde noch jemanden außer uns gäbe. Wir tun nichts anderes, als zu fahren, stundenlang, um dann am Abend in einer ausgeklügelten, dramatischen Inszenierung das schönste, aber auch das billigste Hotel zu finden, in dem wir dann wenig später einschlafen, um am nächsten Tag zu versuchen, noch etwas Besseres und Schöneres zu finden. Eine Aufgabe, die sich nicht so leicht erfüllen lässt, wenn man nicht vorher schon alles plant. Judith versucht, die Übernachtungsorte immer per Internet zu buchen, was vor unserer Fahrt nach Baltimore fehlschlägt, da ich zwei Stunden lang ihre Bemühungen torpediere, bis sie sich geschlagen gibt und wir ohne Buchung losfahren. Dieses Fahren, dieses gleichmäßige Dahingleiten nimmt in meiner Erinnerung den meisten Raum ein. Am liebsten würde ich nur daran denken, wie wir fahren. Ab und zu unterbrechen wir unser Schweigen, schalten das Radio ein oder hören eine CD. Eine Klientin hat mir eine zum Abschied geschenkt, und ich bedauere es, dass ich mich aus professionellen Gründen jetzt nicht mehr bei ihr melden und mich für die CD bedanken kann. Die Band nennt sich nach einer Figur aus einer Erzählung von Kafka» Blumfeld«, und Judith und ich singen bei» Tausend Tränen tief «laut mit. Judith liebt das Lied. Sie programmiert den CD-Spieler so, dass wir es immer wieder hören können. Zu einer gelungenen Reise zweier Menschen, die sich lieben, gehört es, dass man darum kämpft, Orte zu finden und zu Orten zu gelangen, die in der Erinnerung später eine Rolle spielen und unvergesslich bleiben.»Möchtest du mal schauen?«, fragt Judith jedes Mal, wenn wir ein Vacancy-Schild sehen.»Nein, lass uns noch ein bisschen weiterfahren«, sage ich.»Es sieht irgendwie komisch aus. «Mir bleiben zwei Nächte in Erinnerung, wenn man die Rückfahrt nach San Diego nicht mitzählt. Die anderen Nächte, die wir irgendwo verbringen, in denen wir irgendwo übernachten, sind aus meiner Erinnerung mehr oder weniger schon wieder verschwunden und nicht mehr rekonstruierbar. Es sind die Nächte, die verloren gegangen sind.