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Den Verdacht, dass ich diese Reise verkläre, habe ich von Anfang an. Ich denke immer, in Baltimore ist nichts passiert, Baltimore ist eine einzige Katastrophe, obwohl ich vorher noch gedacht habe, Baltimore sei in Wirklichkeit ein Neubeginn gewesen. Die Reise in der Wüste erscheint mir jetzt im Nachhinein als etwas ganz Besonderes, und ich möchte sie eigentlich lieber nicht in Frage stellen. Ich suche ein besonderes Detail, einen Ausdruck von Charme im Stil der Einrichtung, wenn ich mir die verschiedenen Hotelzimmer, Motels und Privatunterkünfte anschaue. In Julian hat eine Frau das Jugendzimmer ihres Sohnes in eine märchenhafte Traumlandschaft und die Zimmerdecke mit Tüchern und Diaprojektionen in einen Sternenhimmel verwandelt, auf den sie so stolz ist, dass wir, während wir das Zimmer besichtigen, die ganze Zeit nur zur Decke schauen.»Das ist genau das Richtige für ein junges Paar«, sagt sie. Wir schauen uns neun verschiedene Unterkünfte an. Zwei Motels, drei Hotels und vier Privatunterkünfte, bevor wir Julian wieder verlassen und in den Nachbarort fahren, um dann aber doch wieder zurückzukehren und in einem Hotel zu übernachten, das uns gar nicht gefällt.»Das ist wunderschön«, sage ich zu der Frau in Julian.»Und ich sehe, Sie haben hier sogar ein Himmelbett. «Judith setzt sich in den Wagen und wartet, bis ich den nächsten Versuch starte. Es ist eine besondere Fähigkeit von ihr, in schwierigen Situationen von einer auf die andere Sekunde absolut teilnahmslos und gefühllos zu werden. Sie zeigt keine Anzeichen von Erschöpfung. Wenn ich sie frage, ob alles in Ordnung ist, nickt sie nur. Am nächsten Morgen verlassen wir Julian und fahren auf dem direkten Weg zum Anza-Borrego Desert State Park. Man kann das Gaspedal in dem Camaro so einstellen, dass der Wagen automatisch Gas gibt und man überhaupt nichts mehr tun muss, außer zu lenken. Wir fahren, ohne anzuhalten. Wir wissen noch nicht, dass wir kurze Zeit später das schönste Hotel und damit den Höhepunkt unserer Reise schon erreicht haben.

Das Hotel liegt etwas abgelegen und ist nicht so leicht zu finden. An einigen Stellen ist der Weg nur noch eine Sandpiste.»Hier ist niemand«, sagt Judith, als wir über ein asphaltiertes Stück zwischen niedrigem Gestrüpp fahren. Aber dann taucht es plötzlich auf, wie ein aus dem Felsen herausgebrochenes Monument. Es ist ein flaches zweistöckiges Gebäude, von hochgewachsenen Palmen umgeben. Als wir uns nähern, erkennt man deutlich, dass es bewohnt ist. Es trägt einen ganz einfachen Namen. Es heißt The Palms. Es ist niemand da, keine Gäste, kein Personal, nicht einmal jemand am Empfangstresen. Für einen Moment vergessen wir die stundenlange Suche nach dem geeigneten Ort, die Agonie, in der wir die ganze Gegend abgefahren sind. Palm Canyon Drive, Borrego Valley Road, Henderson Canyon Road. Wir stehen an der Rezeption, kleine Stapel mit weißen Handtüchern liegen nebeneinander auf dem Empfangstresen. Ich sehe es in Judiths Augen, die Leichtigkeit und Beschwingtheit, mit der sie unser Zimmer in Beschlag nimmt. Die Lobby ist erleuchtet, und im Hintergrund läuft fast unhörbar etwas von Burt Bacharach. Wir sind allein, aber trotzdem scheint es, als wären bis vor wenigen Sekunden alle noch da gewesen. Das Einzige, was wir tun müssen, ist, eine Telefonnummer zu wählen und einer freundlichen Frauenstimme am anderen Ende unsere Kreditkartennummern durchzugeben, und schon können wir uns eine Suite zu besonders günstigen Konditionen aussuchen, mithin also den schönsten, spektakulärsten Raum im ganzen Haus. In den 40er Jahren haben hier Hollywood-Schauspieler residiert. Die Inneneinrichtung ist im Art Deco Stil gehalten, und die verfallenen Bungalows in der Umgebung erinnern an alte glanzvolle Zeiten, in denen das Hotel ständig ausgebucht war. Als wir draußen im Whirlpool sitzen und auf die Palmen und das beleuchtete Hotel schauen, wird uns auf einmal bewusst, was für ein Glücksfall das ist.»Das ist wahrscheinlich das schönste Hotel, das ich jemals gesehen habe«, sagt Judith.»Wirklich, ganz bestimmt«, erwidere ich, während über dem Pool ein leichter Dampfschleier aufsteigt. Die Palmen spreizen sich im Wind. Licht windet sich durch die Lobby, den Saal, unsere Suite im ersten Stock, mit dem ums Eck herumführenden Fensterband, das einen violetten Schimmer verbreitet. Die Granitfelsen des sich hinter dem Hotel erhebenden Indian Head ruhen in der Dunkelheit. Judith streckt ihre Beine aus. Ich sage ihr, wie gut ihr der Ring steht, den ich ihr gekauft habe. Der kleine künstliche Brillant ist auf einem durchsichtigen Plastikband so befestigt, dass es so wirkt, als klebe der Diamant direkt auf dem Gelenk ihres Zehs. Sieben Dollar fünfzig. Wir stützen uns mit den Armen auf den Plastiksitzen ab. Wir können unser Glück nicht fassen.»Und es ist niemand hier«, raunt sie mir zu. Wir stellen uns vor, wir seien die letzten Menschen auf der Erde und fünfzehn Minuten nach dem Untergang der Welt funktioniere alles noch, sogar der Whirlpool.»Hättest du das gedacht«, sage ich,»dass wir so ein tolles Hotel finden?«Ich möchte ein bisschen Anerkennung dafür, dass ich bei der Suche so hartnäckig darauf bestanden habe, jedem Hinweis nachzugehen. Das Hotel wird in meinem Reiseführer als Geheimtipp gehandelt.»Das hast du toll gemacht.«»Und es hat dich nicht genervt?«Ich lasse meine Füße leicht aus dem Wasser hochsteigen.»Natürlich hat es dich ein bisschen genervt. «Judith schüttelt den Kopf.»Nein«, sagt sie.»Es ist das schönste Hotel der Welt, und ich werde es niemals vergessen. «Sie dreht sich zur Fassade des Palms um, schaut anerkennend auf die schwarzen Fensternischen und die im Dunkel liegende Glasfront des Restaurants. Wir müssen in die Stadt zurück, um etwas zu essen. Die Aussicht, unser Hotel für ein paar Stunden zu verlassen und dann wieder zurückzukehren, ist geradezu berauschend.

Ich mache die Augen zu, und wir küssen uns. Lichterketten sind um die Palmen gewickelt und bilden einen illuminierten Raum, der unseren vor dem Hotel stehenden Wagen umgibt. Zwei andere Wagen stehen ebenfalls auf dem Parkplatz. Es müssen die Fahrzeuge der Toten sein, die die Katastrophe nicht überlebt haben, deren Tod aber glücklich und schmerzlos gewesen ist und die jetzt, wie Judith glaubt, auf dem höchsten Punkt des Indian Head begraben sind. Es ist niemand da, wir könnten uns im Whirlpool lieben. Es ist ein spielerischer Gedanke, der nicht ganz zu dieser friedlichen, geisterhaften Umgebung passt. Das warme Wasser beruhigt und entspannt. Judith erzählt von ihrer neuen Wohnung in Washington, die sie sich mit Kyra teilt. Der Einfluss von Kyra macht sich immer mehr bemerkbar. Von Ethnologie ist überhaupt nicht mehr die Rede. Bei Judiths neuem Promotionsthema geht es um die Anfänge der internationalen Hilfsgemeinschaften, das Internationale Rote Kreuz und wie die Erfindung der Telegraphie und des Morse-Codes die moralische Distanz zwischen den Schlachtfeldern und den zu Hause Gebliebenen immer mehr verringert hat. Die Zentrale des Roten Kreuzes, sagt Judith, liegt in Genf. Sie sieht wie das Gebäude eines Pharmakonzerns aus. Die Menschen, die dort arbeiten, sind ganz jung und entspannt. Ich bin selbst ganz berauscht von der Vorstellung, Judith sei im Grunde schon jetzt ein weltweit operierendes Führungsmitglied der WHO, eine weltweit eingesetzte UN-Spezialistin. Sie ruht sich im Whirlpool aus.»Hast du schon mal im Wasser Sex gehabt?«, frage ich, um das Thema zu wechseln. Sie legt ein bisschen den Kopf schief.»Ja«, sagt sie.»Aber es macht nicht so viel Spaß, wie man denkt. «Ein Auto nähert sich dem Hotel. Aber es ist nicht weiter besorgniserregend. Zwei große flauschige Badehandtücher liegen links und rechts des Whirlpools. Das Hotel gehört ohnehin uns. Wir sind als Erste da gewesen.»Sie sind zurückgekommen«, sagt Judith.»Wer?«, frage ich.»Na, die anderen«, sagt sie, eine Fußspitze leicht aus dem Wasser herausstreckend, der kleine billige Zehenring blitzt Aufmerksamkeit heischend im indirekten Licht der im Boden verankerten Strahler auf, die den Pool beleuchten.»Die anderen, die hier auch wohnen. «Sie lächelt vor sich hin. Ihr Lächeln, ihre Schönheit, bekommt etwas Mondänes. Sie könnte einer dieser Hollywoodstars sein, die in den 40er Jahren zur Erholung hierher gefahren sind, bevor das alte Hotel abgebrannt ist. Die Landebahn des Flughafens endet direkt hinter uns, nur wenige Meter von uns entfernt, und ist jetzt mit Sträuchern überwuchert. Judith atmet tief ein und streckt die Beine aus. Das fremde Auto erreicht den Parkplatz. Und unser Glück erhebt sich, steigt vor uns aus dem Wasser und läuft, in die großen weißen Hotelhandtücher gehüllt, in unsere verschwenderisch erleuchtete Suite.»Willst du schon mal gehen?«, fragt sie.»Oder möchtest du, dass ich zuerst gehe.«»Warte«, sage ich. In diesem Moment bin ich mir über die Bedeutung dieses Augenblicks nicht im Klaren. Ich spüre nur, wie angenehm warm das Wasser des Whirlpools ist.