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An diesem Abend verlassen wir das Hotel nicht mehr. Es gibt auch außerhalb des Hotels keinen Ort, zu dem man gehen könnte. Als Erstes suchen wir eine Bar, um etwas zu bestellen. Ich möchte sofort einen Drink, um so schnell wie möglich betrunken zu sein. Judith schlägt aber vor, etwas zu essen. Inmitten dieses großen symphonischen Dröhnens, das von den Automaten kommt, sitzen wir in dem notdürftig abgetrennten Restaurantbereich und halten große abwaschbare Menükarten vor uns. Das Geklimper und Gedudel setzt sich aus 700 verschiedenen Maschinen zusammen, vor denen 400 Hotelbesucher sitzen oder stehen. Die Maschinen orgeln, quieken, klingeln oder singen. Die Benutzer, die gleichzeitig die Hotelbesucher sind, stehen davor. Halb ungeduldig, halb gelangweilt. Einige von ihnen sind über Kabel mit den Maschinen verbunden, und Judith erklärt mir, dass sie auf diese Weise kein Bargeld benutzen müssen. Andere tragen kleine Plastikeimer mit sich herum, in denen sie Unmengen von Kleingeld aufbewahren. Dabei handelt es sich meist um ältere Frauen, die mürrisch und geistesabwesend die Maschinen füttern. Vielleicht erinnert das Blinken, Quaken und Scheppern der Maschinen sie an etwas. Die Einführung der Geldstücke erfordert motorisches Feingefühl, erfordert Fürsorge und Sorgfalt. Die Ankunft oder besser gesagt die Rückkehr des Geldes erfüllt den Raum gelegentlich mit einem irrsinnigen Gelächter. Es ist fraglos eine Geburt. Eine Geburt ohne Schmerzen. Manche Maschinen veranstalten ein regelrechtes Feuerwerk, wenn sie einen Gewinn ausschütten. Die alten Frauen, die Ex-Mütter, die Cowboy-Mütter, nehmen das mit großer Gelassenheit hin, schaufeln sich das Geld in ihre Taschen oder in ihre Plastikeimer und spielen dann weiter. Kellner laufen zwischen ihnen herum, nehmen ihre Bestellungen auf und servieren ihnen auf kleinen Tabletts Speisen und Getränke. Das Licht spuckt, jault, krächzt und leidet. Wenn man die Augen schließt, wird das Zusammenspiel der Geräusche zu einem allmählich sich steigernden Horror, aber wenn man sie wieder öffnet, findet man das Leuchten und Blinken der Maschinen auf einmal unwiderstehlich. An den Tischen sind weniger Frauen, dort überwiegen die Männer. Ich traue mich nicht, zu den Tischen zu gehen, da ich fürchte, dort vielleicht wirklich viel Geld zu verlieren, obwohl ich ahne, dass der Abend nur dann ein Erfolg wird, wenn Judith und ich zusammen Geld verspielen. Aber dafür müssen wir erst betrunken sein. Um was geht es in dieser Nacht? Sind wir gekommen, um uns zu amüsieren, oder sind wir schon an einem Punkt, wo selbst die gemeinsame Freizeitgestaltung zu einer Herausforderung wird? Wir sitzen in dem Westernstadt-Ambiente des Restaurants und essen. Judith isst Salat, ich esse ein Stück Leber. Warum ich an diesem Abend, es ist schon kurz vor Mitternacht, wir haben die Drinks noch ein bisschen verschoben, Leber esse, ist mir selbst ein Rätsel. Judith amüsiert sich darüber, sie ist aber in gleichem Maße erleichtert, dass ich so viel Appetit habe und mir etwas» Richtiges «bestellt habe. Sie ist enttäuscht, dass das große Buffet, von dem man so viel essen kann, wie man will, schon geschlossen hat.»Sollen wir Boot fahren?«, frage ich, in der Hoffnung, sie hätte keine Lust.»Wir könnten die Drinks mit ins Boot nehmen und uns einen Überblick verschaffen. «Ich brenne darauf, etwas Unvernünftiges und Waghalsiges zu tun, ahne aber, dass ich dafür selbst kaum noch die Kraft habe. Judith hat die Fähigkeit, sehr gelassen und ruhig zu sein, eine Gelassenheit, die gleichermaßen eine Lethargie, eine latente Dumpfheit mit sich bringt. Ich sehe ihre Tante einmal am frühen Morgen vor dem großen Fernseher sitzen, eine Schale Obstsalat in der Hand und die Fernbedienung neben sich, während auf dem Bildschirm Terry Gilliams

Brazil läuft. Morgens, kurz bevor sie zur Arbeit muss. Ihr Gesichtsausdruck ist der eines Kindes, das seiner Lieblingsbeschäftigung nachgeht. Die alten Frauen vor den Spielautomaten haben denselben Blick. Vielleicht ist es eine Halluzination.»Erst betrinken wir uns«, sage ich mir, während ich den Rasierschaum über das Gesicht verteile,»und dann gehen wir wieder nach oben in unser Zimmer. Und wir müssen unbedingt ein bisschen Geld verspielen. «Judiths Tante schaut Brazil und isst Obststücke. Am frühen Morgen, bevor die Arbeit in der Erziehungsberatungsstelle beginnt, in der sie ehrenamtlich tätig ist. Sie sagt immer, ich soll sie Betty nennen, obwohl sie aus Hannover stammt und eigentlich Elisabeth heißt. Ihr neuer Freund arbeitet als Kameramann für Fernsehproduktionen, ist aber noch gelassener und gemütlicher als sie. Man kann sich unmöglich vorstellen, dass er arbeitet. Die meiste Zeit fahren sie Auto. Der einzige Ort, an dem sie sich bewegen, ist ihr Haus, aber auch dort bewegen sie sich so langsam, dass sie immerfort genüsslich aufstöhnen, wenn sie eine Sitzgelegenheit finden und wieder ausruhen können. Wahrscheinlich ist Aaron bei seinem Job ganz anders. Womöglich explodiert er dann, und seine Kamera, von der ich mir kaum vorstellen kann, er könne sie länger als zehn Sekunden hochhalten, reißt ihn mit sich, und er fliegt den Darstellern und Schauspielern hinterher. Judith sagt, sie habe Angst, dass ihre Tante immer dicker würde und sich irgendwann gar nicht mehr bewegen könne. Schon jetzt sind Aaron und Betty korpulent, und ihre Bewegungen sehen aus, als studierten sie eine Haltung ein, die endgültig ist und die sie dann nicht mehr verändern müssen. Ich sehe ihre Müdigkeit und Lethargie als eine Bedrohung, der wir draußen in der Wüste mit ihren natürlichen Gefahren, ihrer Hitze, ihrer steinernen Unwirklichkeit so leicht entkommen sind. Ich frage die Bedienung des Restaurants, ob wir einen Drink bei ihr bestellen können, aber sie sagt, dass sie im Restaurantbereich keinen Alkohol ausschenken darf. Wir sind die letzten Gäste, vielleicht möchte sie uns loswerden. Auf einmal sagt Judith:»Lass uns hochgehen. «Sie sagt es mit einem Ausdruck matter und kraftloser Nachgiebigkeit, sodass ich mich sofort kerzengerade aufrichte, mit dem Unterarm den Teller etwas vorschiebe und sage:»Aber jetzt geht es doch erst richtig los.«