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Wie kann man morgens einen Film von Terry Gilliam sehen, morgens um Viertel nach acht? Die Spielautomaten klingeln. Es ist das drängende Klingeln von Besuchern, die man nicht lange warten lassen darf. Wollten wir nicht eigentlich unser ganzes Geld verspielen? Wollten wir uns nicht betrinken? Später, nachdem Judith ein paar Dollar an ihrem Lieblingsspielautomaten Wheel of Fortune verspielt hat und wir uns ein bisschen erholt haben, fällt mir das ein.»Hättest du Lust weiterzuspielen?«, frage ich. Ihre Augen strahlen, ich sehe, wie sie für eine Sekunde berauscht und unkontrolliert ist.»Wir könnten an einen der Tische gehen. «Judith schaut sich um. Ich zögere. Wir haben jeder zwei Gin Tonic getrunken, viel zu wenig, um den Kopf zu verlieren. Plötzlich rächt es sich, dass ich vorher so viel gegessen habe.»Wir könnten an einen der Tische gehen«, sage ich. Das ist der Augenblick, in dem mir klar wird, dass ich mich täusche, wenn ich denke, es wäre alles in Baltimore passiert und nicht in Primm. In Baltimore ist gar nichts passiert. Es ist dieser Augenblick in der Lobby, in der großen Spielhalle, ein Moment sexueller Aufgeladenheit, wie wir ihn seit Jahren nicht mehr erlebt haben. Judith lässt ihren Blick über die Automaten schweifen. Die Lichtorgeln, die großen autistischen Geldschleusen und Geburtsmaschinen. Ihr Blick streift zwei alte grauhaarige Frauen, die mit langen, telefonkabelähnlichen Schnüren mit zwei Wheel-of-Fortune-Maschinen verbunden sind. Die Tische sind von hier aus nicht zu sehen. An den Tischen passiert es. An den Tischen treffen sich die Geschlechter, dort wird das Geld ausgegeben. Dort werden die Existenzen ruiniert.»Willst du?«, frage ich. Ich schaue sie von der Seite an. Wie durch ein Wunder hat sich ihr müdes Gesicht, das mir im Restaurant, während wir gegessen haben, so leer und uninspiriert erschien, plötzlich in den Inbegriff beseelter Schönheit verwandelt. Ich möchte, dass sie glücklich ist. In diesem Moment, jedenfalls für den Bruchteil einer Sekunde, bin ich bereit, alles zu verspielen, was ich besitze, nur damit Judith und ich eine gute Zeit haben. Sie schaut sich um. Aber schon im nächsten Moment habe ich auf einmal Angst, sie könnte wirklich zu weit gehen, wenn ich nicht auf sie aufpasse. Wir stehen im Erdgeschoss, in der Lobby des Hotels. Inmitten dieser dimensionslos vor sich hin musizierenden Spielautomaten, die in Abständen von Jahrzehnten Augenblicke gebären, die für die alten Frauen die großen Glücksmomente sind. Und dann halten sie ihre Plastikeimer vor die Ausgabeschächte und schaufeln mit ihren knochigen Fingern die Münzen hinein.»Wir müssen nur einen Tisch finden«, sage ich. Judith reckt den Kopf. Dann finde doch einen Tisch, sage ich mir. Um Gottes willen, finde doch irgendwo einen gottverdammten Tisch. Ich taste in meiner Tasche nach meiner Kreditkarte. Es gibt zwei Möglichkeiten: Alles zu verspielen oder nach oben zu gehen und miteinander zu schlafen. Oder suche ich in Wirklichkeit nach einer Kombination? Die Spielautomaten bilden lange gleichförmige Reihen, zwischen denen leichtbekleidete Bedienungen hin und her laufen, um die alten Frauen aufzuspüren und sie mit Drinks zu versorgen. Sie möchte spielen. Judith möchte etwas riskieren. Ihre Augen leuchten, als hätte der Automat, an dem sie die lächerliche Summe von drei Dollar siebzig verspielt hat, sie infiziert. Tatsächlich aber ist das der Blick, den ich schon kenne. Es ist ihre Begeisterungsfähigkeit, ihre große emotionale Kraft, die in ihr verborgen ist und mit der wir endlich irgendetwas anfangen sollten. Eine Kraft, die unser Leben vielleicht lenken und zu einem glücklichen Ende führen könnte.

4

Durch den langen, mit Teppich ausgelegten Gang nähert sich eine Kellnerin.

Sie trägt ein leeres Tablett und ist auf der Suche nach Gläsern und Flaschen, die die alten Frauen stehen gelassen haben. Es ist halb drei. Die Spielautomaten sind verwaist. Die alten Frauen sind nicht mehr da. Judith wendet den Blick ab. Sie schaut auf das Display des Automaten, an dem sie vorher gespielt hat.»Hast du noch einen Dollar?«, fragt sie. Mit einem Gefühl der Erleichterung greife ich in meine Tasche. Es hat gar keinen Sinn, wenn wir wirklich einen größeren Betrag verspielen. Ich denke das vielleicht im Hinblick auf die Nacht, die uns noch bevorsteht. Die Stunden, die uns noch bleiben, wenn wir auf unserem Zimmer sind.»Es ist doch viel besser so«, flüstere ich, raune ich mir zu. Jetzt, während ich auf den A-Train warte, der mich schließlich zum Flughafen bringt, und diesen Augenblick Revue passieren lasse, ist es nur ein ganz kurzer Moment, ein kurzer Augenblick.»Willst du?«, frage ich. Ich sehe uns, in der Erinnerung, wie wir zurück ins Zimmer gehen. Das große, glamouröse Bett, von dem wir das Bettzeug heruntergerissen haben. Ich sehe unser Zimmer, ein grelles hyperrealistisches Gemälde. Das Gemälde eines kalten, körperlosen Kusses. Es ist mehr ein Versehen, dass wir den Pay-per-View-Kanal benutzen.»Warum nicht?«, sagt Judith, als ich sie frage, ob sie das sehen will. Und sie greift nach dem Kopfkissen, das auf den Boden gefallen ist. Unsere Lebensgeister kehren noch einmal zurück. Wir richten uns auf, die Hände auf das Bett gestützt, und starren auf den Fernseher.

Die Bettlaken sind so straff gespannt, dass das Bett wie ein Felsen unter uns liegt. Der Schrank, in dem der Fernseher untergebracht ist, ist geschlossen, lässt sich aber leicht öffnen. Als ich mir den Mechanismus des Schlosses genauer anschaue, merke ich, dass man überhaupt keinen Schlüssel hineinstecken kann und dass das messingfarbene Schloss nur zur Verzierung auf das Holzfurnier aufgeklebt ist. Und vielleicht ist das das ganze Geheimnis, in dem sich die eigentliche Kraft unserer Liebe offenbart. An manchen Tagen lieben wir uns nicht, sondern warten nur, dass die alten Gefühle wieder zurückkehren. Vielleicht ist das eine Frage der Dosierung, eine Frage des verantwortlichen Umgangs mit Gefühlen, den man nicht so ohne weiteres steuern kann. Bei Gabriela kann ich mir vorstellen, dass sie sich einen solchen Film anschaut, mit derselben Unvoreingenommenheit, mit der sie auch sonst alles anschaut, was mit Sexualität zu tun hat. Einmal hat sie sogar zusammen mit ihrem Freund eine Erotikmesse besucht und mir erzählt, wie» lustig «und» interessant «sie vor allem die Frauen findet.»Die Frauen?«, frage ich sie.»Du fandst sie lustig?«»Ja«, sagt sie,»sie hatten Spaß miteinander. Alle haben ständig gelacht. «Ihr würde auffallen, dass die Darstellerinnen in dem Film, den ich mit Judith in Primm sehe, auffallend klein sind. Garantiert würde Gabriela sagen:»Warum sind die denn alle so klein?«Oder sie würde sagen:»Die waren alle im Solarium. Alle zusammen. «Gabriela geht selbst ins Solarium, und zwar regelmäßig. Die gleichmäßig gebräunte Haut der Darstellerinnen in dem Porno, den ich mit Judith sehe, lässt diese Frauen für mich als Wüstenfrauen erscheinen, Wüstenbewohnerinnen, die irgendwie in diesen Film hineingeraten sind und bei denen sich die Sonneneinstrahlung gleichmäßig auf ihre kleinen wendigen Körper verteilt hat. Einige von ihnen tragen Ringe und Armreifen oder schwere goldene Ketten, die mehrfach umeinandergewickelt sind. Und auch das würde Gabriela nicht unkommentiert lassen. Sie würde sagen:»Und sonst haben sie nichts an. Lustig was?«Judith sagt dagegen nichts. Sie schaut einfach nur zu. Sie macht nicht eine einzige Bemerkung. Schaut sie den Film an, um mir einen Gefallen zu tun? Ich sage:»Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt Lust darauf habe. «Und dann sage ich:»Ich bin gar nicht in der Stimmung dafür. «Gabriela schaut sich die Frauen auf der Erotikmesse an. Sie findet es erstaunlich, wie gut sie sich in Form halten und wie gepflegt sie sind. Einige von ihnen findet sie auch attraktiv. Sie sagt:»Aber es ist ja eine Messe. Da ist das dann eben so.«»Dass man sie attraktiv findet?«, frage ich.»Nein, dass sie Spaß haben, und die Leute, die sie anschauen, haben auch Spaß. Das ist doch schön. «Und ich kann nicht anders, als zu denken, dass Gabrielas große unerschöpfliche Unschuld mich noch bis an mein Lebensende immerzu rühren und verzaubern wird.»Willst du dir das wirklich anschauen?«, frage ich Judith mit der Fernbedienung in der Hand, unfähig, den Pay-per-View-Kanal wieder zu verlassen. Wir haben noch nicht mal eine Decke. Wir liegen beide nackt auf dem beigefarbenen Riesenbett und sind der Erregung, die uns ergreifen soll, hilflos ausgeliefert.