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Judith hat das Licht ausgeschaltet. Sie überlässt mir die Suche, und ich fühle mich verpflichtet, das Tier zu finden. Ich suche die gesamte Umgebung ab, kehre zum Wagen zurück und überquere die Straße, um auf der anderen Seite weiterzusuchen. Hier ist der Bewuchs der Büsche dichter, sie sind höher, einige von ihnen reichen mir bis zur Schulter. Hinter einem besonders großen Busch bleibe ich stehen, bücke mich und schaue auf einen weiter entfernt liegenden Gegenstand, von dem ich glaube, er könnte vielleicht das verletzte Tier sein. Regungslos, auf die Seite gefallen, die Beine halb in der Luft, die Vorderbeine abgeknickt oder weggebrochen, liegt es da. Es ist bis hierhin geflohen und dann verendet. Ich zögere. Muss ich noch mehr Schuld auf mich laden? Ich habe das Tier überfahren, in meiner Besessenheit, Nipton zu erreichen und gegen den Willen von Judith noch eine weitere Nacht hier draußen zu verbringen. Noch eine Nacht. Eine dritte oder vierte. Eine, an die ich mich erinnern kann. Wir brauchen noch eine Nacht, um glücklich zu sein. Das Nipton mit seinen rauchfarbenen Rattanstühlen vor den blau eingefassten Fenstern und den eingefärbten Dekorationssteinen im Vorgarten.»Where the past is present«, heißt es auf der Internetseite des Hotels, das so klein und abgelegen ist, dass das Vorhandensein einer Internetseite gar nicht zu ihm passt. Judith hilft mir nicht, ich muss das Tier allein finden. Ich habe es ja auch getötet. Nicht erst in New York, auf dem Weg zum Flughafen, erkenne ich, was für ein hochkomplizierter Schuldmechanismus meine Beziehung zu Judith bestimmt und wie ich ständig Schuldgefühle produziere. Ein Mechanismus, der auf Reisen, wenn Judith und ich ununterbrochen zusammen sind, nicht funktioniert. Das Tier will von uns erlöst werden. Es läuft in unseren Wagen hinein. Ein selbstzerstörerischer Akt. In meinem eigenen Wagen habe ich immer ein Paar Latexhandschuhe dabei. Sie würden es mir leichter machen, den Kadaver bis zum Straßenrand zu ziehen und im Scheinwerferlicht zum Vorschein zu bringen. Aber im Wagen von Judiths Tante sind natürlich keine Handschuhe.»Tut mir leid. Mein Gott, es tut mir so leid«, flüstere ich vor mich hin.»Du armes Tier!«Ich richte mich auf. Vielleicht lebt das Tier noch. Ich muss einen Weg finden, es von seinen Schmerzen zu erlösen. Ich mache einen Schritt vor. Der Boden wird härter und steiniger.»Was ist?«, ruft Judith. Wenn ich das Tier finde, ihr den Kadaver zeige, sie damit konfrontiere, fahren wir vielleicht doch zum Hotel. Ich würde ihn mit bloßen Händen greifen und dann schnell zum Wagen ziehen. Vielleicht könnte ich auch noch ein Seil holen, irgendetwas, an dem ich ihn befestigen kann. Wie Lambert sagt:»Sie behandeln mich so, als wäre ich gar nicht krank, aber dabei bin ich es doch. Sie haben immer alles im Griff, und ich bin hier der Idiot. Ich werde auch in hundert Jahren nicht gesund sein, ich werde hundert Jahre brauchen, aber mein Vater wird immer noch da sein. Ich werde ihn nie loswerden. «Nicht reagieren, ihn nur anschauen, ihm die Chance geben, sein Gesicht zu wahren, ohne dass er in seinen Beleidigungen zu weit geht. Ihn fixieren, nicht mit der Wimper zucken, früher oder später schaut er zur Seite und beruhigt sich wieder. Ich gehe näher heran. Wie kann dieses Wesen beide Vorderbeine verlieren, nur weil es mit einem kleinen Sportwagen zusammenstößt, dann aber auch noch weiterlaufen? Das ist unmöglich. Ich denke, dass Judith auch leidet, dass sie auch Tränen vergießt.»Natürlich liebe ich sie«, sage ich zu Mads Christiansen, als er mich beim Mittagessen in der Nähe des Rockefeller Centers fragt, warum ich Judith in der Öffentlichkeit eigentlich nie berühre. Sie ist müde, das ist schließlich der Grund. Sie hat keine Lust, hier im Dunkeln herumzulaufen und nach einem Tier zu suchen, dem wir» sowieso nicht helfen «können.»Wir können ja doch nichts tun«, sagt sie mit tränenerstickter Stimme, als wir darüber diskutieren, ob wir weiterfahren oder noch länger suchen sollen. Aber es sind Tränen der Erschöpfung. Das Tier ist ihr egal.»Wir sind ja nicht allein auf der Welt. Wir teilen uns doch die Natur«, doziert sie auf der Fahrt, später, als wir noch einmal darauf zu sprechen kommen.»Das Tier ist selber schuld. Du musst aufhören, dir Vorwürfe zu machen. Solche Dinge geschehen, so etwas passiert. «Sie ist zu einer erstaunlichen Gefühlskälte fähig, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlt. Warum macht sie das Licht aus, plötzlich mitten in der Wüste? Während ein unschuldiges Tier in seinem Versteck zwischen zwei mannshohen Dornenbüschen verendet, möchte sie keine Energie verschwenden. Sie lehnt sich zurück. Sie hat noch nicht einmal den Gurt abgelegt.»Lass uns Blumfeld hören«, sagt sie, als wir losfahren. Hat ihr der Film in Wirklichkeit gefallen, und ich habe es nur nicht gemerkt? Wir drehen nicht mehr um, wir fahren nicht zum Nipton.»Tausend Tränen tief. «Die Schuld, die ich gesucht habe, finde ich nicht. Ich laufe weiter, laufe zwischen den Büschen hindurch zu der Fundstelle, ich trete ganz nah heran, darauf vorbereitet, einen warmen, lebendigen Körper zu finden, der auf der Schwelle zum Tod einen letzten Blick auf mich wirft. Aber das Tier mit den beiden abgetrennten Vorderläufen, den abgerissenen Gliedmaßen ist ein halb verkohlter Baumstumpf mit zwei in den Himmel ragenden dünnen Ästen. Fünfzig Meter von unserem Wagen entfernt.

Wir fahren zurück. Ich lasse Judith fahren, damit ich selbst besser reden kann. Ich will ihr etwas erklären. Ich erkläre ihr, warum es so wichtig ist, dass wir diese Nacht im Nipton verbringen, dass es aber jetzt ausgestanden und vorbei ist und dass ich mich darauf freue, mit ihr zurück nach San Diego zu fahren.»Ich verbringe lieber einen Tag mit dir in San Diego«, sagt sie, als hätten wir dort nicht schon genug Zeit zusammen verbracht. In Restaurants, in Kinos, am Hafen, am B-Street Pier und vor dem neuen Flachbildschirm im Fernsehzimmer ihrer Tante.»Das ist dieselbe Genauigkeit und Akribie, mit der ich auch meine Sitzungen auswerte und mich auf sie vorbereite«, erkläre ich ihr,»und das ist auch der Grund, warum meine Praxis so gut läuft. «Ich bleibe zehn Minuten neben der Straße sitzen. Ich tue für einen Moment noch so, als würde ich weitersuchen, obwohl ich die Suche schon aufgegeben habe.»Was hast du denn da so lange gemacht?«, fragt sie, als wir weiterfahren. Hat sie mich durchschaut? Sie hat vergessen, das Licht einzuschalten. Weiß sie schon, dass ich am gleichen Abend die Iranerin anrufe? Ihr gefällt der Porno. Sie sagt es nur nicht, sie will es nicht zugeben. Ich kann noch so viele Nächte absuchen, noch so viele Nächte durchleuchten. Es ist egal, was in Baltimore passiert ist oder in Primm. Der eigentliche Moment, die eigentliche Lösung liegt woanders. Am nächsten Tag bleibe ich zu Hause. Ich habe Fieber. Das Haus ist leer, es herrscht eine angenehme Stille, aber ich kann immer noch nicht aufhören. Ich habe immer noch nicht genug. Ich muss Schuld auf mich laden.»So geht das also … Das ist es also«, sage ich zu mir und schleife meine Gepäckstücke hinter mir her. Die Türen der U-Bahn schließen sich, und ich habe jetzt nur noch die Strecke mit dem Shuttle vor mir. Es sind nur noch 17 Minuten, wenn man es genau nimmt. 17 Minuten, und alles, was jenseits dieser Grenze passiert, jede Minute, die ich noch verliere, bringt mich in eine Situation, in der ich nur noch auf ein Wunder hoffen kann. Wir fahren zurück. Die Wüste hellt sich etwas auf, der Sternenhimmel dehnt sich. Der Asphalt der Straße ist von einem gnädigen Grau, das natürliche Licht der Nacht auf einmal so klar, dass Judith nicht merkt, dass sie das Licht nicht eingeschaltet hat.»Spinnst du«, schnauze ich sie an, kurz bevor wir den Highway erreichen,»hier ohne Licht zu fahren?«