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Teil Vier

1

«Sie lesen das hier ja sowieso nicht«, schreibt Lambert in seiner E-Mail, die ich schon im Internet-Café in Williamsburg ausdrucke, aber erst jetzt in der U-Bahn lese. Ich brauche mir wegen ihm keine Sorgen zu machen, aber es könnte sein, dass ich mein Verhalten ändern muss. Ich darf auf keinen Fall noch einmal zulassen, dass er eine Stunde eigenmächtig überzieht. Mit Mads Christiansen streite ich immer wieder darüber, warum ich so einen Klienten nicht aufgebe. Er hat keine Ahnung. Er träumt immer davon, irgendwann auch eine Praxis zu eröffnen, obwohl er in seinem ganzen Leben noch keinen einzigen Menschen therapiert hat.»Er ist ganz kalt, dieser Blick«, schreibt Lambert in seiner E-Mail. Sein Vater hat seine Tätigkeit bei den Grünen jetzt beendet und arbeitet als Geschäftsführer von Transparency International.»Und wie er immer schaut. Es ist kalt und indifferent, so wie ein Gott schauen würde, den man erwischt hat. Denn das ist ja die einzige Chance für einen Gott, wenn man ihn erwischt, wenn man ihn nämlich ausfindig gemacht hat, in seiner göttlichen Unnahbarkeit. Das ist die einzige Chance, um weiterexistieren zu können. Er streitet einfach alles ab, er verleugnet sich selbst. Nein, sagt er dann, das bin ich doch gar nicht. «Ich lese die E-Mail nicht zu Ende, es ist ein weiterer Versuch einer Grenzüberschreitung. Ich habe einmal einen Termin per E-Mail abgesagt, ohne daran zu denken, dass er damit meine Adresse hat und mir jederzeit schreiben kann. Er glaubt, er kann mich in die Enge treiben, als er in der letzten Stunde einfach sitzen bleibt, während ich den Raum verlasse. Später, als er sich für seinen Wutausbruch entschuldigt, sage ich ihm, dass wir so nicht weiterarbeiten können.»Sie versuchen, die Regeln zu brechen, und zwar ständig«, sage ich.»Es sind Regeln, die wir vereinbart haben, und an die müssen wir uns auch halten. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. «Mads Christiansen wirft mir vor, ich sei zu gutmütig und würde mir zu viel gefallen lassen.»Willst du nicht mal was Neo-Analytisches probieren?«, fragt er. Ich zweifele daran, dass er auch nur die geringste Idee von dem hat, was er sagt. Er widerspricht mir, als ich ihm zu erklären versuche, mit der Psychoanalyse sei es ein für alle Mal vorbei. Das Schweigen des Analytikers.»So ein Quatsch, so ein himmelschreiender Unsinn«, sage ich. Es ist am Ende unseres Mittagessens, als der Schaden schon nicht mehr gutzumachen ist. Seine Angriffe gipfeln darin, dass er mir allen Ernstes vorschlägt, eine Auszeit zu nehmen und eine Weile überhaupt niemanden mehr zu therapieren. Er mischt sich überall ein und glaubt, er habe als erfolgreicher Buchautor das Recht dazu und könne so ohne weiteres meine Arbeit und sogar mein Leben bewerten und darüber zu Gericht sitzen. Obwohl wir uns sonst einig sind, dass die systemischen Ansätze besser sind, verteidigt er die klassische Psychoanalyse auf einmal. Ich muss ihm deutlich machen, dass er davon nichts versteht.»Hast du schon mal irgendjemanden therapiert?«, frage ich.

Ist es wirklich ein Schweben? Oder hänge ich in der Luft? Die Geschwindigkeit des Shuttles ist deprimierend. Könnte ich meine Vision wieder aufleben lassen? Warum endet sie, kaum dass wir wieder in San Diego sind. Oder, ein kurzer fast hämischer Gedanke: War es überhaupt eine Vision? Ein Moment, in dem ich zu erkennen glaube, es sei zwischen Judith und mir alles geklärt, und ich bräuchte mir keine Sorgen mehr zu machen, und am Ende würden wir für immer zusammenbleiben. Die Vision, denke ich immer wieder. Die Vision, die du in der Wüste gehabt hast. Und wie ich auf einmal denke: Jetzt gibt es kein Zurück mehr, jetzt wird es immer so weitergehen. Aber dann ist die Vision vorbei. Dann endet sie. Federal Circle. Der Zug stoppt. Jetzt ist die Frage, ob er nach links oder nach rechts fährt. Zu Terminal 1 oder zu Terminal 8. Auf meinem Plan scheint beides möglich zu sein. Aber wenn er erst zu Terminal 1 fährt und den längeren Weg einschlägt, dann ist es vorbei, und ich kann gleich wieder zurückfahren. Oft schaue ich sie an, und ich sehe gar nichts. Ich schließe die Augen und erkenne sie nicht. Sie läuft in ausgebeulten Jogginghosen und verwaschenen T-Shirts durch die Wohnung, baut ihre Bücherstapel auf und wirft ihre Taschentücher auf den Fußboden. The Warrior’s Honor. Ethnic War and the Modern Conscience. Michael Ignatieff, London 1998. Zwei zusammengeknüllte Taschentücher liegen daneben und ihre Hausschuhe, zwischen denen sich ein weiteres kleines weißes Dokument ihrer Nasen- und Nebenhöhle-Krise wiederfindet. Die Kinder von Tschernobyl, Macht und Gewalt, Krieger ohne Waffen. Das internationale Komitee vom Roten Kreuz, Die

Erfindung des Friedens. Priester und Fürsten. Völker und Nationen. Idealisten und Ideologen. Manchmal mache ich mir einen Spaß daraus und hebe die Taschentücher auf. Ich folge ihrer Spur. Sie lässt die Taschentücher zurück, nimmt aber die Bücher mit. Mir ist es ein Rätsel, wie sie überhaupt zu Hause arbeiten kann. Über Wochen verlässt sie das Haus nur am Abend, wenn sie sich mit ihren Freundinnen trifft. Wenn ich aus der Praxis komme, wartet sie schon ungeduldig, aber dann hat sie doch keinen Hunger mehr. In den letzten Wochen, in denen sie in München ist, gehen wir dauernd essen. Wir gehen ins Restaurant, als wäre das ein erstes Zeichen unserer Trennung. Kyra besorgt ihr ein Praktikum in Washington, und Kyra besorgt ihr am Ende auch ein neues Promotionsstipendium. Wie ist der Zusammenhang? Die Erfindung des Morse-Alphabets und die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes. Die Frage der moralischen Distanz. Judith trägt ihren Bücherstapel ins Wohnzimmer, oder sie sitzt in der Küche. An schönen Tagen ist sie draußen im Garten. Sie putzt sich die Nase, indem sie ein zusammengeknülltes Taschentuch unter ihre Nasenlöcher hält. Man kann nicht sagen, dass sie sich die Nase putzt, sie lässt sie laufen. Später bereue ich es, dass ich diese Hinterlassenschaften, ihre» droppings«, wie ihre Tante sagt, beseitigt habe. Ich finde keine Taschentücher mehr, aber zwei Inhalatoren, die unter das Bett gefallen sind.»Gib uns beiden ein bisschen Zeit«, sagt sie bei unserem Spaziergang in den Kelso Dünen.»Wenn ich es schaffe, ein Stipendium zu kriegen, bleibe ich natürlich länger. Aber du kannst mich ja besuchen. Und ich«, setzt sie hinzu und macht eine kurze Pause,»besuche dich auch. «Als wären wir von der gleichen Krankheit betroffen, als hätte uns das gleiche Schicksal ereilt.

Ich schwebe dem Terminal 4 entgegen, mittlerweile schon wenige Minuten über der Zeit. Der Shuttle heißt» Air Train«, fährt aber so langsam, dass ich mir wünsche, ich könnte ihn verlassen und zu Fuß weitergehen.»Kein Problem«, sage ich mir.»Ich rede mit den Leuten. «Die Leute beim Einchecken, ich spreche mit denen.»Du bist wie ein Schmetterling«, sagt Judith,»wenn du etwas willst. Dann fliegst du um einen herum und flatterst mit den Flügeln. «Sie trägt Jogginghosen, lässt ihre Nase laufen und verteilt Taschentücher auf dem Fußboden. Warum will sie nicht nach München zurück? Wegen der Geschichte in unserer Gästewohnung? Ich erkläre ihr, wie akribisch ich meine Sitzungen vorbereite und dass es in meiner Arbeit um Präzision, Einfühlung und höchste Aufmerksamkeit geht, aber gleichzeitig auch um Chaos und Kreativität. Aber in Wirklichkeit will ich nicht nach San Diego zurück. Ich sage:»Du musst das verstehen. Ich kann gar nicht anders. «Statt dass ich sage: Ich möchte, dass wir hier bleiben, dass wir die Nacht hier draußen verbringen, hier in dieser unglaublichen Stille und Dunkelheit. Unter freiem Himmel. Nur wir beide. Auf diese Idee komme ich nicht. Als wir von unserer Reise nach San Diego zurückkehren, gehen wir essen. Die Iranerin ist nicht zu Hause. Die Ansage auf ihrem Anrufbeantworter ist ein haltloses und sinnloses Vogelgezwitscher. Ich fische den Zettel mit ihrer Nummer wieder aus der Mülltüte heraus. Es sind nur wenige Nächte, die wir in San Diego verbringen. Wir übernachten in dem Raum, in dem Betty und Aaron normalerweise ihre Wäsche zum Trocknen aufhängen. Als Schlafstätte dient uns eine Zusammenstellung aus Tüchern, Decken und einem alten Schlafsack. Bei unserer Rückkehr ist Besuch da. Betty, Aaron, Aarons Mutter und seine Großtante, die blind ist und trotzdem die ganze Zeit fernsieht. Sie sind alle zu Hause und erwarten uns. Trotzdem rufe ich die Iranerin an, und zwar von Bettys Schlafzimmer aus, während unten die anderen mit dem Essen auf mich warten. Ich muss nicht einmal besonders leise sprechen.»Please leave a message after the beep. «Ein Singsang, der gar nicht mehr aufhört. Ich probiere es dreimal, weil mir die Iranerin bei unseren ersten Kontaktanbahnungsgesprächen gesagt hat, sie sei eigentlich immer zu Hause, aber es könne natürlich sein, dass sie nicht ans Telefon geht, aber dann solle ich es eben mehrmals probieren. Ich habe Fieber, wie sich später herausstellt, 39 Grad. Auf der Rückfahrt sehe ich immer wieder Betty und ihren Freund Aaron vor mir. Ich sehe sie vor dem Fernseher sitzen, noch immer vor demselben Film, den sie auch morgens bei unserer Abreise schon gesehen haben. Brazil. Ich sehe sie beide mit ihren kugelförmigen, unbeweglichen Körpern auf den anthrazitfarbenen Sesseln vor dem neuen Flachbildschirm. Sie schauen eine Extended Version, die den ganzen Tag läuft. Aber im Grunde, wie ich in meinem Fieberwahn denke, schauen sie nicht den Film, sondern sie schauen mich an. Sie schauen mir zu, wie ich in ihrem Wagen durch die Wüste fahre und zusammen mit ihrer Nichte langsam sterbe. Wir gehen essen. Ich überrede Judith, die lieber zu Hause bleiben würde.»Ich war doch gar nicht so viel draußen«, erkläre ich.»Es kann gar kein Hitzeschlag sein. «Oder ist das am nächsten Tag gewesen? Ist es an dem Tag gewesen, nachdem ich die Iranerin getroffen habe?