2
Der Air Train erreicht die nächste Station. Einige Leute steigen aus. Mit einem Ruck setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Ein Mann in einem grauen Nadelstreifenanzug, der neben mir steht, telefoniert, und es stellt sich heraus, dass auch er nach Deutschland muss. Plötzlich werde ich von einer Welle der Zuversicht erfasst. Plötzlich weiß ich, dass ich den Flug nicht verpassen werde, dass ich ihn gar nicht verpassen kann.»Lassen Sie uns darüber reden«, werde ich zu der Frau am Check-in-Schalter sagen, ich muss mir unbedingt eine Frau suchen, keinen Mann, wenn möglich eine afroamerikanische, auf keinen Fall eine asiatische oder kaukasische.»Das kann doch kein so großes Problem sein, oder?«Meine Gedanken beschleunigen sich, und meine Schuldgefühle nehmen immer mehr zu. Ich bin mit Judith essen gegangen, aber die Iranerin habe ich erst am nächsten Tag getroffen. Wir gehen in das Grillrestaurant im Gaslamp Quarter. Es ist sehr beliebt, und man muss eine Weile warten, bis man einen Platz bekommt, an einem dieser großen stählernen Grilltische, an denen man dann sitzt und dabei zuschaut, wie das Fleisch, das man bestellt hat, langsam vor sich hin schmort. Am nächsten Tag habe ich sie getroffen. Die Iranerin, die nicht Jessica oder Jennifer, sondern Jenny heißt. Wenn ich jetzt in San Diego wäre. Ich würde Jenny sofort anrufen. Es wird zu einer Obsession. Ich muss nachschauen, ob ich ihre Nummer habe, ob ich sie theoretisch anrufen könnte, und vielleicht rufe ich sie ja auch an. Vielleicht ist sie an die Ostküste gezogen. Sie hat mir davon erzählt, dass das ihr Traum wäre. New York. Es ist ein Moment der Lähmung. Ein Augenblick totaler Erstarrung. Eine Maschine steigt hinter dem Flughafengebäude auf, schwerfällig und wuchtig. Ist es meine? Habe ich mich um eine weitere Stunde verschätzt? Ich blättere in meinem Telefonbuch, aber ich weiß nicht mehr, wie Jenny mit Nachnamen heißt. Ich kann mich an ihren Nachnamen nicht mehr erinnern, und ich weiß nicht, wo ich suchen soll. Unter» Iranerin«? Das ist verrückt, denke ich noch. Das ist der reine Wahnsinn.
Eine Stunde warten Judith und ich in dem Restaurant im Gaslamp Quarter. Es liegt südlich vom Broadway zwischen 4th und 6th Avenue und heißt Dancing Queen. Es sind nur ein paar Häuserblocks, aus viktorianischen Holzhäusern und Ziegelbauten bestehend. Wir haben eine Art Beeper in der Hand, einen kleinen Plastikkasten, der einer Fernbedienung ähnelt. Wenn er aufleuchtet, heißt das, dass unser Platz am Grilltisch frei ist. So lange stehen wir im Barbereich und trinken. Dancing Queen. Weil das Fleisch auf dem Grill tanzt? Oder ist damit der Club im Keller gemeint, zu dem wir später dann doch nicht gehen? Judith ist ganz beschwingt. Sie trägt mein Lieblingskleid, ein Kleid mit einem hellblauen kubistischen Muster.»He«, sagt sie.»Das ist doch erst dein zweiter Gin Tonic. Gehen wir tanzen?«»Wie?«, frage ich.»Ich denke, wir warten auf unseren Platz.«»Danach«, flötet sie.»Nach dem Essen. «Sie lehnt sich an mich, sie ist schon stark angetrunken. Ich erwarte, dass sie nach dem Essen vollkommen in sich zusammenbricht, und bin zu meinem eigenen Schrecken beinahe erleichtert. Außerdem kann man in San Diego ohnehin nicht ausgehen. Judiths Tante und ihr Freund schauen Brazil. Sie schauen mir dabei zu, wie ich sterbe. Der Fernseher, wie flüssiges, in ein quadratisches Sektglas gegossenes Licht, überträgt meinen Tod, mein Dahinvegetieren. Die Iranerin ist nicht da. Ich probiere es später noch einmal. Das muss Selbstmord sein. Ich rufe sie von einer Telefonzelle aus an, nachdem wir das Grillrestaurant verlassen haben. Judith ist glücklich, kann sich aber kaum auf den Beinen halten.»Hast du Kleingeld?«, frage ich sie.
Wenn alles gut geht, komme ich sofort dran. Dann ist alles nur noch Formsache. Ich bin nur noch eine Station von Terminal 4 entfernt. Ich überlege, wie ich am besten mein Gepäck sortiere, wie ich es am besten tragen kann. Am nächsten Morgen bin ich allein zu Hause. Ich soll mich hinlegen und mich auskurieren. 39 Grad. Judith und ihre Tante sind zu einem Schrotthändler gefahren, um neue Scheinwerfer für den Wagen von Aaron zu besorgen. Aarons Wagen steht mit ausgebauten Scheinwerfern vor dem Haus, als die Iranerin kommt. Beim Mittagessen in New York erzählt mir Mads Christiansen von einem Artikel über die» elektronische Erfassung von Fingerabdrücken«. Und was das heißt und dass er es bei seinem nächsten Besuch genauso machen wird wie Giorgio Agamben, der all seine Termine an der Universität abgesagt hat. Ich habe meinen Fingerabdruck abgegeben, weil ich Judith sehen will. Fliege ich mit Delta oder mit KLM? Habe ich nicht auf dem Hinflug in Chicago die Fluggesellschaft gewechselt? Ich komme nach New York, um ein einziges Wochenende mit Judith zu verbringen und so zu tun, als wollte ich eigentlich Mads Christiansen sehen, wie er seinen großen Kongress-Auftritt hat.»Hast du schon mal jemanden therapiert?«Ich habe den Eindruck, er hat den Artikel von Agamben über» biopolitische Tätowierung «auswendig gelernt.»Wir haben immer Angst, dass wir uns selbst nicht erkennen können«, sagt er,»aber wir sind schon sichtbar genug. Mehr als genug. «Ich esse mit ihm in einem Steakrestaurant. Mit Judith bin ich in einem Grillrestaurant. Aber wir essen kein Fleisch, sondern Shrimps. Die Nummer der Iranerin, die Nummer von Jenny ist besetzt. Sex? Um halb fünf? Ich lege meinen Finger auf das schwarz umrandete Gummifeld, das in meiner Erinnerung weich und nachgiebig ist. Die Kamera befindet sich in einem Knopfauge am Ende einer mikrofonartigen, gebogenen Stange. Die ganze Prozedur ist gar nicht so kalt und klinisch, wie ich befürchtet habe.»Wir müssen die Menschen verstehen, die wir lieben«, sagt Judith zu Betty, am nächsten Morgen, als wir zusammen frühstücken. Warum will ich die Iranerin anrufen? Warum will ich mich auf einmal mit ihr treffen? Jetzt in New York, fünfundfünfzig Minuten, bevor mein Flug geht. Ich lege meinen Finger auf das Prüffeld. Ich folge den Anweisungen des Beamten und justiere die Position. Mein Fleisch und Blut wird gescannt und fotografiert. Ich lasse mich tätowieren, so wie Mads Christiansen es ausdrückt, in dem unterirdischen Steakrestaurant, in dem es so kalt ist, dass es mich fröstelt.»Ich glaube, du kannst gar nicht lieben«, sagt er auf einmal, während er in seiner Salatbeilage herumstochert. Du kannst nicht lieben. Ich schaue kurz auf die Kamera, die meinen Finger fotografiert. Im ersten Moment frage ich mich noch, was er damit meint und ob es vielleicht ein Witz sein soll. Aaron ist in Los Angeles bei Dreharbeiten. Und Judith und Betty fahren zum Schrotthändler, um die Scheinwerfer zu besorgen. Wie ein Kind, das nichts mit sich anzufangen weiß, gehe ich zum Müllcontainer vors Haus und suche nach dem Zettel mit der Nummer der Iranerin, die ich, um meinen Schwur einzuhalten, noch am Abend zuvor weggeworfen habe.