«Wie bitte … in meinen Mund?«Sie grinst. Die Silberkugeln auf ihrer Zunge und ihrem Gaumen blitzen. Ihre Zähne, von Speichel überzogen, gleiten unter ihren rosigen Kinderlippen hervor. Sie hält das Kondom mit ihren künstlich verlängerten Fingernägeln zwischen ihren Beinen. Sie dreht sich um. Ich schaue aus dem Fenster und starre auf die beiden ausgehöhlten Scheinwerfer-Halterungen im Wagen von Aaron, den er in der gegenüberliegenden Einfahrt der Nachbarn geparkt hat. Jemand auf dem Parkplatz vor Sears hat Aarons Wagen beim Zurücksetzen so beschädigt, dass beide Scheinwerfer kaputt sind. Ich versuche Aaron davon zu überzeugen, dass man das selbst machen kann. Es dauert nur eine halbe Stunde, dann haben wir die Scheinwerfer ausgebaut. Aaron ist nicht so geschickt, wie ich gedacht habe. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er mit der Handkamera jemandem folgt. Jemandem, der auf der Flucht ist, jemandem, der sich mit zwei schweren Reisetaschen einem Flughafengebäude nähert. Terminal 4. Jetzt kann ich es sehen. Wie weit bin ich vom Check-in-Schalter entfernt? Ich habe zwei schwere Reisetaschen und eine Umhängetasche. Wie soll man sich mit solchen Gewichten an den Armen bewegen?» In meinen Mund?«, fragt die Iranerin. Die Nummer ist verschwunden, sie existiert nicht mehr. In meinem Telefonbuch stehen unter J wie Judith nur die Nummern von Betty, Aaron und Judiths Freundinnen, mit denen ich keinen Kontakt mehr habe, und ihre neue Nummer in Washington. Das hat mit meinem Gelübde zu tun, das ich erneuert habe. Ich habe die anderen Nummern vernichtet. Es hat eine reinigende Wirkung, etwas zu vernichten. Insbesondere Telefonnummern und E-Mail-Adressen von Menschen, mit denen man eigentlich gar nichts zu tun hat. Ist deswegen unser Wochenende in New York so kläglich verlaufen, weil ich mich zwei Tage zuvor mit Anne getroffen habe? Weil ich schon wieder mein Gelübde gebrochen habe? Habe ich an diesem Wochenende, auch in emotionaler Hinsicht, keine Kraft mehr? Und tatsächlich hat Anne in meiner Erinnerung, mit ihren kleinen wie aufgemalt wirkenden Brüsten und ihren schmalen Lippen, etwas Vampirhaftes an sich. Die beiden Scheinwerfer sehen wie Augenhöhlen aus. Leergeschabte ausgebrannte Höhlen. Judith und Betty brauchen den ganzen Vormittag, aber dann kommen sie mit zwei neuen Scheinwerfern von einem weit außerhalb von San Diego gelegenen Schrottplatz wieder zurück. Ich starre in diese schwarzgrauen Leerstellen hinein, in diese metallenen Öffnungen. Ich habe sie selbst da herausgerissen, ich habe die Lampen selbst entfernt. Sie hätten den Fahrzeugbrief mitnehmen sollen oder die Modellbezeichnung aufschreiben können, dann hätte ich mit dem Wagen von Betty zur Iranerin fahren können und dann wäre ich nicht in diese Situation geraten. Dann stünde ich nicht im Haus der Tante meiner Freundin vor einer Frau, die ich dafür bezahle, dass sie vor mir kniet und zu mir sagt:»Was ist los? Warum schaust du die ganze Zeit aus dem Fenster? Oder hast du keine Lust mehr?«
3
Das Treffen mit Jenny ist von langer Hand vorbereitet. Ich habe schon ein paar Mal mit ihr telefoniert.»Wenn ich kommen soll, dann kostet es 300. Und ohne Voranmeldung 350«, sagt sie am Telefon.»Ich habe keinen Wagen«, sage ich,»ich überlege, ob ich mit dem Taxi fahren soll.«»Fahr nicht mit dem Taxi«, sagt sie.»Ich will das nicht. Du findest mich sowieso nicht. «Unser erster Kontakt liegt fast ein Jahr zurück. Sie will, dass ich mich schon ins Bett lege, wenn sie kommt, aber darauf gehe ich natürlich nicht ein. Es ist der Versuch, die Zeit, die wir zusammen verbringen, auf ein Minimum zu beschränken.»Ich möchte, dass du ganz normal angezogen bist«, erkläre ich ihr.»Meinetwegen wie eine Studentin, verstehst du? Was für einen Wagen fährst du?«Sie parkt ihren Wagen wie vereinbart nicht vor dem Haus, sondern einen Block weiter. Ich bin überrascht, sie ist schöner und charmanter, als ich gedacht habe. Sie arbeitet als Personalmanagerin, sagt sie. Obwohl sie vorher um jede Minute gefeilscht und mir abwechselnd vorgeschlagen hat, ich solle die Tür auflassen oder mich wenigstens schon mal ausziehen, lässt sie sich jetzt ohne weiteres durchs Haus führen. Als wäre ich ein Immobilienmakler und sie eine vermögende Kundin. Sie selbst findet diese Umkehrung unserer Rollen amüsant. Ich habe bestimmte Vorstellungen und Erwartungen an unser Treffen, aber sie kommt dann über eine Stunde zu spät, und auf einmal erweist sich meine ursprüngliche Choreographie, die in dem am weitesten vom Eingang entfernten Dachzimmer beginnt, als zu gefährlich. Es gibt keinen Plan B. Wie ließe sich die Anwesenheit einer tätowierten und gepiercten Iranerin schon erklären?» Verlang nicht von mir, dass ich schauspiele. Das kann ich nicht.«»Das würde ich auch gar nicht wollen«, sage ich. Wir gehen im ersten Stock von Zimmer zu Zimmer. Für einen Augenblick überlege ich, ob das Badezimmer nicht der sicherste Ort ist. Das Badezimmer von Betty und Aaron. Auf dem hellen Velourteppich der Dachetage heben sich ihre dunklen, bronzefarbenen Füße ab. Sie hat ihre Schuhe auf der Veranda stehen gelassen. Und ich mache mir in Gedanken eine Notiz: Schuhe auf der Veranda nicht vergessen! Sie hat auffallend schöne Füße. An jedem der mittleren Zehen sind silberne Zehenringe. Ich schaue auf den grünen Velourteppich und denke, sie geht auf Händen. Einmal bleibe ich vor ihr stehen und denke: Ich könnte mich dafür bestrafen, dass ich sie hergeholt habe, indem ich sie frage, ob ich ihr die Füße küssen darf. Aber dann habe ich dazu auf einmal keine Lust mehr.
Das ist der Augenblick, den man erkennen muss. Die letzte Chance, ein Moment, in dem man gegen alle inneren Widerstände und vor allem gegen jede Vernunft beherzt und entschlossen handeln muss. Ich gehe mit ihr durchs Haus. Es ist von außen vollständig weiß lackiert. Unter der modernen Holzverkleidung soll sich angeblich eine Arts-and-Crafts-Fassade befinden, wie Aaron behauptet.»Nein, nicht im Bad«, sagt sie. Wir gehen nach unten, stehen eine Weile auf der rückwärtigen Terrasse und blicken in den Garten. Gibt es eine Verabredung zwischen Judith und mir, dass so etwas nicht passiert? Haben wir jemals darüber gesprochen?» Meine Sünden … Aber davon will ich gar nicht erst anfangen«, hätte ich sagen können. Mein Gelübde, meinen Schwur, den ich gebrochen habe. Im Fulton Park, zwischen den Brücken, die nach Manhattan führen, auf einer Parkbank, stehe ich kurz davor, ihr von alledem zu erzählen. Ob ich mir einen letzten Trumpf aufbewahren will? Die Räume im Haus sind überall mit Teppichen, Kissen und Sitzgelegenheiten ausstaffiert. Unsere Schritte sind gedämpft. Das ganze Haus erscheint mir im Nachhinein wie ein therapeutisches Zentrum, in dem normalerweise Tagungen und Fortbildungen stattfinden, in einem kleinen Kreis für Interessierte. Meine Anwesenheit dort, die zwei Nächte, die Judith und ich vor und nach unserer Reise auf dem Schlafsacklager verbringen, sind ein sanfter unmelodischer Missklang. Das Haus organisiert sich in meiner Erinnerung um einen kleinen, relativ düsteren Raum herum, in dem Betty und ihr Freund vor dem riesigen Fernseher sitzen und ihre DVD-Sammlung durcharbeiten, die sie hüten wie eine unüberschaubare Kinderschar, von der sie alle Kinder gleichermaßen lieben.»›Brazil‹ haben wir elf Mal gesehen, oder?«, fragt Aaron Betty, als ich wissen will, warum sie sich den Film schon am frühen Morgen anschauen.»Das macht einfach Spaß, das beruhigt, wenn so was im Hintergrund läuft«, sagt Betty mit ihrer leicht apathischen Stimme, zu der es passt, dass sie sich in ihrer Wohnung kaum noch bewegt. Die Erziehungsberatungsstelle, in der sie arbeitet, liegt irgendwo am Stadtrand, ein neues Programm nach Carolyn Webster-Stratton wird gerade implementiert, und mal ist Betty den ganzen Tag zu Hause, und mal kommt sie schon am frühen Nachmittag zurück. Sie hat die Fähigkeit, ihre kleinen Schwächen mit einer gewissen Würde einfach zuzulassen, sodass selbst ein großes Fastfood-Gelage bei ihr zu Hause bei niemandem ein schlechtes Gewissen auslöst. Ihre Gelassenheit ist zweifellos eine Form der Weisheit, und mittlerweile kann ich es verstehen, dass Judith sie ihren eigenen Eltern vorzieht. Die Iranerin findet den Raum mit dem Flachbildschirm klaustrophobisch. Es erregt mich auf einmal, dass sie diesen Ausdruck benutzt. Es erscheint mir untypisch für eine Personalmanagerin, aber ich will nicht weiter nachfragen, weil ich vor unserer sexuellen Begegnung nicht zu viel über sie wissen will. Meine ursprüngliche Idee, sie in diesem Raum beim Sex zu filmen und das Filmmaterial dann mit ihr, während wir weiterhin Sex haben, gemeinsam anzuschauen, erweist sich als zu kompliziert.»Komm, wir ziehen uns einfach aus«, sagt sie. Ich schüttele den Kopf und schaue auf den Fernseher. Frühmorgens um halb sieben. Obstsalat und Brazil. Steckt ein Geheimnis dahinter? Gibt es einen Übergang? Eine Stelle im Haus, die nach München führt? Eine Schleuse? Vom Fernseher in Primm und der verschlossenen Fahrstuhltür zu dem velourteppichbedeckten Holzfußboden in San Diego weiter bis zur Treppe aus Marmor in München, die zu der mit einem Metallgitter geschützten Glastür unserer Gästewohnung führt?