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In plötzlicher Panik schießen mir mehrere Alternativpläne durch den Kopf: Wir fahren in ihrem Auto irgendwohin. Wir verlassen das Haus und laufen irgendwohin. Schließlich kommen wir in das Zimmer, in dem ich mit Judith schlafe. Es gibt kein Bett, keinen Stuhl, nur ein winziges Waschbecken und einen kleinen fleckigen Spiegel. Es ist undenkbar, dass das hier geht.»Im Stehen«, sagt die Iranerin und schaut mich verführerisch an. Sie hofft auf eine schnelle Lösung, etwas, das wir im Vorübergehen erledigen können.»Ich möchte, dass du dich ausziehst, aber lass den Schmuck an«, erkläre ich. Sie ist schon mehr oder weniger nackt, als wir das Zimmer erreichen. Das, was ich im Zimmer sehe, was mich dort erwartet, ist der eigentliche Schock, das eigentliche Motiv, der eigentliche Erinnerungsbrandfleck. Ich könnte hundertmal in der Wüste kauern und vor den Augen von Betty und ihrem Freund verbrennen, dieses Erlebnis lässt sich damit nicht aus der Welt schaffen. Der Körper der Iranerin ist sehr schön. Sie läuft durch das ganze Haus. Ich würde sie am liebsten immer so herumlaufen lassen und zuschauen, wie sie sich bewegt.»Das ist der Unterschied«, sagt Mads Christiansen bei einer seiner wissenschaftlichen Monologe, mit deren Hilfe er seine neuen Ideen an mir ausprobiert. Als er an seinem Buch über Evolutionsmanagement schreibt, erzählt er mir ständig von faszinierenden Phänomenen aus der Tierwelt, von der Intelligenz von Fischschwärmen zum Beispiel, bei der die kognitiven Fähigkeiten in die Gesamtheit des Systems schon integriert sind, sodass der ganze Schwarm sich wie ein Individuum verhält. In seinem neuen Buch, dessen Thema er mir aber nicht verrät, muss es um Sexualität gehen. Er sagt:»Zwischen Askese und Promiskuität gibt es keinen Unterschied, jedenfalls keinen qualitativen. Bei beiden geht es um dasselbe: Wiederholung, Apathie, Leidenschaft. So gesehen macht es keinen Unterschied, ob man Asket oder Orgiastiker ist.«»Wenn du dich hier hinknien könntest«, sage ich zu der Iranerin. Wir stehen im Wohnzimmer vor dem Fenster.

Der Shuttle hält vor Terminal 4. Ich muss aussteigen. Schaffe ich es noch? Ich muss mich zusammenreißen. Jede Sekunde zählt. Ich spüre die Trageriemen der Taschen, die in meine Handinnenflächen und in meine Schultern schneiden. Das kleine Zimmer, in dem die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wird und in dem Judith und ich die Nacht verbringen. Ich sehe diesen Raum jetzt vor mir. Ich habe die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet.»Es gibt noch nicht mal ein Bett in diesem Zimmer«, sage ich zu der Iranerin, die mir über die Schulter schaut. Ich stehe vor dem sorgsam ausgebreiteten Schlafsack, dessen Reißverschlussnaht aufgetrennt ist und den Judith und ich uns als Schlafunterlage teilen. Und dann sehe ich es: Ein aus Geldstücken gebildetes Herz. Ein Kunstwerk. Ein riesiges Herz aus Geld, aus unzähligen kleinen Münzen. Unser gesamtes Kleingeld, das sich während der Reise angesammelt hat und sich jetzt mit den deutschen Münzen vermischt. Judith hat am Morgen, bevor sie das Haus verlassen und das Zimmer aufgeräumt hat, dieses Kunstwerk, eine Liebeserklärung aus Münzen, für mich geschaffen, in ihrer gewohnt akribischen Art, mit der sie auch ihre Listen führt und die Umzugskartons beschriftet. Das Herz liegt auf dem Schlafsack, es ist fast einen Meter groß. Das nachmittägliche Sonnenlicht fällt auf die linke geschwungene metallene Hälfte und lässt die Münzen im Licht erstrahlen. Ich schrecke zurück.

Mit einem einzigen Ruck, indem ich ihn am unteren Ende packe, ziehe ich den Schlafsack vom Bett und schließe sofort die Tür.»Nein«, sage ich zu der Iranerin, als wir wieder im Wohnzimmer sind.»Mit dem Rücken zum Fenster, ich muss die Straße sehen. «Sie geht mit einer feierlichen Abwärtsbewegung in die Knie und kommt mit halb geöffnetem Mund auf mich zu. Ich starre aus dem Fenster.»Warte«, sage ich. Ich überlege, ob ich die Tür abschließen soll, aber es gibt keinen Schlüssel.»Bleib so«, sage ich,»beweg dich nicht von der Stelle.«»So?«Sie legt ihre Hände auf ihre gebräunten haarlosen Schenkel und schaut mich an. Es ist ein Blick, der mich 350 Dollar kostet, ein 350-Dollar-Blick. Wie viel kostet das Lächeln von Judith? Das Lächeln in der Gästewohnung an dem Morgen, nachdem Mads Christiansen abgereist ist. Als ich aus irgendwelchen Gründen erst später in die Praxis gehe. Sie nähert sich mir. Ihr Lächeln ist eine Waffe, mit der sie sich selbst verletzt. Ich halte das Bettlaken, auf dem Mads Christiansen geschlafen hat, in der Hand, und Judith kommt auf mich zu. Ich stehe vor ihr, starre wie gelähmt auf ihren Mund und ihr Lächeln, mit dem sie sich tief in ihr eigenes Gesicht hineinschneidet. Warum, um Gottes willen will sie ausgerechnet an diesem Morgen Sex? In dem Moment, als ich das Bett abziehe und noch nicht mal die Fenster geöffnet habe. Es ist ein regnerischer Tag und dunkel in der Gästewohnung. Sie schmiegt sich an mich. Bittet sie mich um Hilfe?» Kannst du die Fenster aufmachen?«, sage ich noch, während ich mit einem leichten Räuspern den Raum verlasse. Ich gehe einfach, ich lasse sie einfach stehen.»Es ist so stickig hier unten«, sage ich. Sie trägt einen alten verwaschenen Schlafanzug und hat noch nicht einmal Strümpfe an. Ich höre später ihre Schritte, als ich die Wohnung verlasse, um zur Praxis zu fahren. Die Schritte ihrer nackten Füße auf dem kalten Marmor der Treppe, während ich noch überlege, ob ich nicht schnell die Tür zuziehen soll. Ihre Schritte sind das Angebot, ihre vorsichtige Bitte, ob wir an diesem Morgen nicht vielleicht miteinander schlafen könnten. Aber ich verlasse den Raum. Ich gehe einfach zurück in unsere Wohnung.»Einen Moment«, sagt der Mann in dem Nadelstreifenanzug, der im Zug neben mir steht, während er sein Telefon ans Ohr hält. Wir stoßen kurz zusammen, als ich mich umdrehe, um meine Taschen hochzuheben.