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«Bist du wach?«Er schaltet seine Taschenlampe ein und leuchtet mir ins Gesicht. In Queens nehme ich ein Taxi. Am frühen Morgen, als es schon dämmert. Ich suche den Schnauzbärtigen im ganzen Haus und bin froh, als ich ihn schließlich allein in der Küche finde, wo er ein Glas frisch gepressten Orangensaft trinkt. Zum Telefonieren gehen wir wieder nach unten ins Schlafzimmer. Es ist das Zimmer, in dem er seine Jugend verbracht hat, erklärt er mir. Seine eigene Wohnung ist in einem anderen Stadtteil und viel größer, aber sie hat keinen Garten. Man sieht nichts von dem Geld, den Ergebnissen seiner Arbeit in der Investmentbank, deren Namen wie der einer berühmten Schauspielerin klingt. Zwischen den Anpflanzungen, den Erdklumpen am Rande des kleinen Bambuswäldchens, wo gerade etwas umgegraben wird, ist nichts zu erkennen. Er trägt ein weißes Hemd, khakifarbene Arbeitshosen und Sandalen, bei denen die Lederriemen bis zum Unterschenkel reichen.»Man weiß nie, was passiert«, sagt er.»Wenn man am Ende des Jahres keinen Bonus bekommt, kann man es gleich vergessen. Dann ist man am Ende. «Ich bleibe eine Stunde. Aber mehr aus Höflichkeit. Als ich in dem Rattansessel im Garten sitze, sehe ich auf einmal eine kleine Katze, die auf einem schmalen hölzernen Steg in das Dickicht der Bambusstangen hineinläuft, und stehe, magisch angezogen, auf und folge dem Tier. Noch immer weiß Judith nichts vom Schicksal unserer Katze. Ich habe ihr nichts erzählt.»Sobald du den Kreis betrittst«, erkläre ich Lambert in meinem Traum,»hast du schon eine Entscheidung getroffen. Du musst dir das wirklich als Kreis vorstellen. Es ist eine Zone, die du selbst definierst«, sage ich, nachdem die Versöhnung mit seinem Vater jetzt feststeht.»Der Kreis, einmal gezogen, schützt das, was sich in ihm, aber auch das, was sich außerhalb von ihm befindet. Aber vielleicht fangen wir einfach einmal damit an, dass du mir etwas von deinem Vater erzählst. Du hast gesagt, er sei ein begeisterter Tennisspieler?«Der Traum ist zirkulär und fängt nach einer Weile wieder von vorne an. Schließlich bricht er irgendwann einfach ab und hört auf. Die Anstrengungen sind noch immer zu spüren, als wären meine Glieder und mein ganzer Körper durchgeschüttelt worden, als hätte jemand versucht, mich auseinanderzureißen. Ich rede auf diese Frau ein, mit Engelszungen, mit aller Kraft, die mir noch zur Verfügung steht. Mir kommt es so vor, als würde ich meinen Kopf nehmen und ihn vor ihr auf den Tresen des Schalters legen und sagen:»Hier. Jetzt schauen Sie sich das an. Das ist nämlich mein Ticket. «Ich folge der Katze. Ich laufe ihr hinterher. Sie bleibt ein paar Meter weiter zwischen den Bambusstangen am Rand des hölzernen Stegs stehen und schmiegt sich gegen die im Wind leicht hin- und herwogenden Gräser. Bambus, hat mir Mads Christiansen einmal erzählt, ist eine besondere Pflanze, die auch in seinem Buch vorkommt. Bambus ist die einzige Pflanze auf der ganzen Welt, die pro Tag bis zu einem Meter wachsen kann. In Hiroshima war Bambus nach der Atombombenexplosion die erste Pflanze, die sich auf den kontaminierten Arealen der Stadt wieder ausgebreitet hat. Die» Transferfrage «bei Bambus lautet:»Wann bin ich flexibel? Verbiege ich mich zu viel? Mute ich mir und meinem Unternehmen zu viel zu? Verliere ich meine Identität?«Die Katze huscht in das Gras unter dem Holzsteg. In dem Moment sehe ich die beiden Männer auf einem freien Platz ein paar Meter entfernt. Zwei Windlichter stehen auf Holzpfosten, und ich erkenne das Barett von Mads Christiansens Co-Autor. Ich höre das Rascheln des Bambus im Wind, schaue mit Wehmut der kleinen Katze hinterher, während Mads Christiansens Co-Autor und der andere Mann sich auf einem kleinen Wiesenstück gegenüberstehen. Diese Szene, die auch von zwei anderen Männern beobachtet wird, ist wie eine zärtliche Poetisierung dessen, was auf dem Dampfer passiert ist, und die Gesichter der Männer, die sich mit den Händen stimulieren, sind in ein goldenes, weiches Licht getaucht, eine Epiphanie, die Variation eines Motivs, das ich schon kenne.»Bist du wach?«, fragt der Schnauzbärtige. Mads Christiansens Co-Autor ist ganz in Schwarz gekleidet, während die anderen Männer nackt sind. Ich schaue einen Moment zu, weil ich fürchte, es könnte auffallen, wenn ich mich sofort umdrehe und zurückgehe. Ich möchte nicht wie jemand erscheinen, der das hier nicht zu würdigen weiß, schließlich habe ich die Hälfte der Party ohnehin verschlafen.»Hast du noch was?«, höre ich ein Flüstern.»Was?«, antwortet eine Stimme. Ich gehe weiter, folge dem Pfad, der sich durch den Garten schlängelt, ohne dass ich weiß, was ich suche. Eigentlich suche ich nichts. Ich bin nur dabei, meinen Impulsen zu folgen, die mich in Situationen bringen, in denen ich etwas tue, was mich selbst überrascht. Ich erreiche eine kleine Mauer und setze mich dann eine Weile auf ein Stück Wiese. Es liegt ganz im Dunkeln.»Warte«, sage ich zur Iranerin, als sie das Kondom aus der Packung zieht.»Warte noch einen Moment. «Sie hält das Kondom in der Hand und dreht sich um.»Kann ich mit Ihrem Vorgesetzten sprechen?«, frage ich die KLM-Mitarbeiterin, deren Gesichtszüge herrisch und kühl sind. Als würden Drähte durch ihr Gesicht laufen, die sie mit ihren langen knochigen Händen reguliert.»Tut mir leid. So steht es in den Geschäftsbedingungen. Das können Sie gerne nachlesen. «Die Männer im Garten schweigen und verrichten ihre Arbeit. Ich höre immer wieder ein Rascheln und unidentifizierbare Geräusche. Sie stehen voreinander und agieren in aller Stille. Es sind Zeichen und Regungen, die nicht interpretiert werden müssen. Der Wind wird stärker, jemand hustet, jemand zieht die Nase hoch, jemand stöhnt aus tiefstem Herzen. Dann setzt ein Rhythmus ein, ein Takt. Ich versuche, nicht hinzuhören, indem ich die Augen zusammenkneife und in meinem Kopf ein lautes Rauschen erzeuge. Der Co-Autor mit dem Barett auf dem Kopf erscheint mir jetzt hemmungslos und verwildert. Vielleicht liegt es daran, dass er noch seine Kleidung trägt. Ich bin immerhin barfuß. Es ist vielleicht halb vier oder noch später. Ich überlege, ob ich auch Bambus anpflanzen soll, vielleicht an der Stelle, wo ich unsere Katze beerdigt habe. Es liegt am Wind, an diesem plötzlich aufkommenden Wind, den ich sofort mit dem Wind von San Diego verbinde, der über das Bambusfeld zieht, in dem die Freunde von Mads Christiansen sich miteinander vergnügen, während der Schnauzbärtige irgendwo im Haus ist. Seine Eltern sind nicht da. Die Starpsychiater aus Palo Alto. Das Haus ist dunkel, ein großer heißer Stein. Später, als wir zum Telefonieren noch einmal ins Schlafzimmer heruntergehen, ist es auch dort so heiß, dass ich froh bin, wenig später bei heruntergelassenem Fenster im Taxi zu sitzen, auf dem Weg nach Hause. Mit dem Gefühl der Betäubung, das sich kurze Zeit später in Erleichterung, dann sogar in Euphorie verwandelt. Judiths Besuch steht mir an diesem Morgen noch bevor. Wir werden ein unvergessliches Wochenende zusammen verbringen, denke ich auf dem Rücksitz im Taxi. Ob ich mir Bambus kaufen soll für unseren Garten in München?