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Vielleicht liegt es an der Klimaanlagenluft. Als wir den Busbahnhof betreten, hat sie auf einmal wieder gute Laune. Ich vergesse das Geschenk, das kleine grüne SchmuckKreuz, das ich auf dem Hinweg bei der Zwischenlandung in Chicago für sie gekauft habe. Ich trage es die ganze Zeit mit mir herum, und am Busbahnhof, am Port Authority Bus Terminal, vergesse ich es auf einmal. Nur wenige Meter von dem Mitarbeiter der Busgesellschaft entfernt, der die Tickets kontrolliert. Sie hält den Kopf wieder so hoch. Das ist der Museumsblick. Ein Blick, den ich von den vielen gemeinsamen Ausstellungsbesuchen schon kenne. Ihr Blick ist eine Mischung aus Erhabenheit und Leere. Ihre Handtasche geschultert und die Haare hochgebunden. So steht sie im Museum vor den Bildern. So als wollte sie sich ihnen zur Verfügung stellen. Als hoffte sie, etwas von der Aura der Bilder würde sich auf sie übertragen. Ich erinnere mich, wie sie bei der Lucien-Freud-Ausstellung, von der ich nicht mehr weiß, wo wir sie gesehen haben, schon den ersten Bildern mit dieser aufrechten, den Kopf gleichsam rahmenden Aura gegenübertritt. Als wollte sie sagen: Zeigt euch von eurer schönsten Seite, dann zeige ich mich auch von meiner schönsten Seite. Dabei sind die Gemälde von Lucien Freud gar nicht schön. Ich knie auf dem Boden und lege die Scherben des arabischen Tongefäßes zusammen. Was würde Judith jetzt sagen? Würde sie Mitleid mit mir haben? Und dann zeigt sich wieder ihre Präsidentengattinnenhaftigkeit, während wir vor einer dicken nackten Frau stehen und sie die Bemerkung macht:»Wusstest du eigentlich, dass er ein Enkel von Freud ist. Also dem Freud?«Und sie in ihrer typischen somnambulen Leere an mir vorbei auf ein anderes Bild schaut, um meine Reaktion einfach zu ignorieren.»Mir gefällt, wie die Frau aussieht«, sagt sie.»Die Haut sieht gar nicht so alt aus, wenn man die Augen zusammenkneift.«»Ja, wenn man die Augen zusammenkneift«, wiederhole ich, um nicht Gefahr zu laufen, belehrend zu wirken. Dabei kennt sie sich mit Kunst ohnehin viel besser aus als ich. Sie entdeckt ständig neue Künstler und neue Museen und erinnert mich daran, wenn wir uns mal wieder etwas anschauen müssen. Sie streicht sich mit ihrer rechten Hand über den Nacken, fährt mit der abgekauten Spitze ihres Zeigefingernagels über ihren entblößten Hals. Wie um Himmels willen schafft sie es, so gedankenlos und unvoreingenommen zu sein? Sie schaut auf die Bilder. Auf die wuchernde düstere Haut der Nackten von Lucien Freud. In der Ausstellung, die wir nicht in Deutschland, aber mit einiger Sicherheit auch nicht in London und schon gar nicht in Washington gesehen haben. Eine Ausstellung, die wir irgendwo gesehen haben, irgendwo auf unserer langen Wanderschaft, die unserem ständigen Bedürfnis geschuldet ist, die Schauplätze unserer Beziehung zu verlagern und möglichst jeden Monat auf einer anderen Bühne aufzutreten. Wie sie schon ins Museum hineingeht. Als begrüße sie ihre Gäste. Trotzdem kann ich nicht anders, als ihren zärtlichen Hochmut in diesem Moment zu bewundern. Sie selbst würde vor Scham erröten, wenn ich auch nur eine Andeutung machen würde. Wenn ich sagen würde, sie sei hochmütig oder, was noch schlimmer wäre, aggressiv. Ist sie aggressiv, wenn sie von der» Haut der alten Frau «spricht, die so aussieht» wie ein Feld«, das gerade eben» gepflügt «worden ist? Eine Frucht, die gerade» gepflückt «worden ist? In London? In Düsseldorf? Oder doch in München? Sie lächelt. Sie wirft den Kopf zurück. Weniger vielleicht, dass sie ihn zurückwirft, als dass sie ihn zurücklegt, etwas in die Rückenlage geht, um ihren Ausbruch von Lachen abzusichern und zu stabilisieren. Sie lacht, umgeben von diesen schmierigen traurigen Bildern des Enkels von Sigmund Freud. Sie lacht, wie man sagen könnte, rückwärts, nach hinten gewandt. In New York sind ihre Lippen blass und hell. Sie hat den Lippenstift nicht nachgezogen, während wir die langgezogene Bedford Avenue entlanglaufen, um dann doch mit der U-Bahn zum Fulton Park zu fahren. In dem kleinen Park hat man eine wunderbare Aussicht auf Manhatten. Man befindet sich direkt zwischen Brooklynund Manhattan-Bridge, aber wir haben kaum Zeit, uns auf eine der Bänke zu setzen und uns auszuruhen. Kurze Zeit später muss sie zum Busbahnhof zurück. Es ist ungeheuerlich. Sie schaut sich jedes Bild an. Es können noch so unbedeutende Skizzen sein, sie schaut sie sich an. Im Gegensatz zu ihr möchte ich die gesamte Ausstellung mit einem Blick erfassen, damit ich weiß, auf was ich mich einzustellen habe. Sie aber schenkt jedem noch so kleinen Kopf, jedem noch so fragmentarischen Porträt ihre ganze Aufmerksamkeit.»Haben nicht alle Lucien-Freud-Gesichter den gleichen Ausdruck?«, frage ich sie. Sie nickt, den Mund fest geschlossen, ein Ausdruck erotischer Verweigerung. Wenn sie doch nur ein einziges Mal den Kopf schief legen würde. Aber sie muss ihre Museums-Haltung wahren.»Ich finde das auch«, sagt sie in ihrer grenzenlosen Kompromissbereitschaft.»Sie sind geheimnisvoll. Ein bisschen mysteriös. «Sie gerät in Fahrt, zeigt einen Moment der Leidenschaft.»Ja«, sagt sie,»wir denken immer, wir kennen schon alles. «Sie sagt immer» wir«, wenn sie philosophisch wird.»Wir tun so, als verstünden wir alles. Aber manchmal verstehen wir uns selbst nicht. Und hier«, sie zeigt auf ein anderes Bild.»Findest du nicht, dass es brutal aussieht?«Ich verstehe nicht, was sie meint.»Oder gefällt es dir nicht, weil es nicht abstrakt ist?«Weil es nicht abstrakt ist? Sie spitzt die Lippen und legt den Kopf schief, um mich nachzumachen. Tatsächlich liebe ich sie dann am meisten, wenn sie mich nachahmt. Wie ist das zu beurteilen? Was heißt das? Ich liebe sie, wenn sie mich nachahmt. Wir gehen zu einem anderen Bild, in einer Ecke, wo ich noch nicht gewesen bin. Sie will mir etwas zeigen. Möchte sie mir ein Bild zeigen, in dem wir uns wiederfinden können? Ich kann mich an kein einziges Lucien-Freud-Bild erinnern. Ich sehe immer nur sie. Wie sie die Bilder anschaut und wie sie immer sagt:»Was wir denken. Was wir wissen … Als würden wir das alles verstehen.«

3

Zu diesem Zeitpunkt bleibt uns noch eine halbe Stunde. Das Geschenk ist in meiner MRI-Konferenz-Tasche, die eigentlich Mads Christiansen gehört und die ich die ganze Zeit mit mir herumtrage. Die Aufschrift ist schon etwas verblasst. Mental Research Institute. Mads Christiansen hat drei Jahre dort studiert. Zusammen mit dem Reiseführer und meinem Notizbuch trage ich noch eine dünne Wolljacke in der Tasche, falls es in den klimatisierten Räumen zu kalt wird. Aber den ganzen Tag haben wir keine klimatisierten Räume erreicht. Die Bank im Fulton Park liegt immerhin im Schatten. Vielleicht ist das Ausdruck meines gestörten Verhältnisses zu meinem Beruf, dass ich es nicht schaffe, mit ihr zusammen zu sein und unsere bedrohliche Sprachlosigkeit zu durchbrechen. Im Kontakt zu meinen Klienten ist mein Schweigen kraftvoll, im Beisein von Judith ist es tatsächlich nur Stille und Sprachlosigkeit. Und dass ich dann denke, wir könnten sie spazierengehenderweise überwinden. Bei der Besichtigung der auch für Judith noch unbekannten und geheimnisvollen Stadtteile Williamsburg und Brooklyn Heights.»Es ist doch gut, wenn wir hierbleiben«, sagt sie, als wir in einem Café in der Bedford Avenue sitzen und frühstücken.»Wir müssen nicht alles anschauen, nur weil wir es uns vorgenommen haben. «Das ist ihr besonderes Talent. Ihre Anpassungsfähigkeit, von der ich aber glaube, sie wendet sie nur auf mich an, während ihr eigenes Leben einem genau festgelegten Plan folgt. Und dann bin ich ihr auch noch behilflich, die U-Bahn-Station zu finden, als läge es in meinem Interesse, dass sie die Stadt so schnell wie möglich verlässt. Sie hustet und bleibt stehen. Nicht weit vom jüdischen Viertel, in der Nähe der Division Street.»Wusstest du eigentlich, dass ich jüdische Vorfahren habe?«, überlege ich zu sagen, aber ich fürchte, sie würde die sich anschließende Geschichte nicht hören wollen und nur matt und uninspiriert» ja?«fragen. Es ist alles nicht richtig vorbereitet. Es ist ein Spaziergang, den ich selbst ein paar Tage zuvor gemacht habe, aber zu einer Tageszeit, als es noch angenehm kühl ist. Sie will nicht nach New York, sie will lieber in Washington bleiben.»Du kannst doch auch kommen«, sagt sie am Telefon, als ich sie einmal in der Mittagspause in Washington anrufe. Abends arbeitet sie im Afterwords-Café neben der Buchhandlung Kramer, in der Nähe des Dupont-Circles. Ihre Freundin Kyra kennt den Besitzer und hat ihr den Job besorgt. Manchmal geht sie, wenn sie mit der Arbeit im Robert-Kennedy-Institut fertig ist, direkt rüber ins Café. Sie trägt diese dunkelblaue Schürze mit einer Gedichtzeile aus Howl, weil die Geschäftsleitung ihren Gästen den Eindruck vermitteln will, auch die Leute, die im Afterwords-Café arbeiten, lieben die Literatur. Als ich sie das erste Mal in Washington besuche, muss ich dort eine Stunde auf sie warten und zuschauen, wie sie in dem halbleeren Café die Tische sauberwischt. Am Ende ist es doch Wut und keine Trauer, dass sie kaum noch etwas sagt. Sie will spazieren gehen, nicht laufen. Soll ich sie bewundern? Dafür, dass sie in einem halbleeren Café die Tische sauberwischt? Wieder einmal frage ich mich, ob man an einem Asthma-Anfall so ohne weiteres sterben kann. Ihre Gesichtszüge verzerren sich. Ihre ganze Wut oder ihre Trauer ist in diesem Moment in ihre verstopften, verklebten Lungenflügel hineingeflohen. Noch in der Schlange vor dem Port Authority Bus Terminal, kurz bevor wir uns verabschieden, überlege ich, ob ich ihr nicht doch von unserer Katze erzählen soll, obwohl ich sie eigentlich damit verschonen wollte.»Ich vermisse sie so sehr«, sagt sie am Telefon, aber in New York hat sie nicht ein einziges Mal nach ihr gefragt. Wut oder Trauer. Diese beiden Gefühle sind bei ihr schwer auseinanderzuhalten. Ihre Trauer sickert in ihre Lungen hinein. Die Schwingungsfrequenz ihrer Lunge nimmt die Frequenz ihrer Trauer an, die in Wirklichkeit vielleicht Wut ist. Ihre Trauer, unsere Trauer oder meine Trauer verlangsamt sich, die Schwingungsfrequenz verlangsamt sich, und die Trauer senkt sich in ihre Lunge hinein, beinahe schon am Ende der Bedford Avenue, als wir entscheiden, doch die U-Bahn zu nehmen. In diesem Moment ist es zu spät. Sie atmet kaum noch, sie schaut mich mit einem verzerrten Gesichtsausdruck an. Das ist unsere gescheiterte Trauerarbeit.»Wollen wir die U-Bahn nehmen?«, frage ich. Es ist ein großer Umweg, und wir gewinnen kaum Zeit. Sie sagt nichts. Sie schaut mich nur an.»Sollen wir?«, frage ich. Die Trauer ist in ihr angekommen, versteckt sich in ihr, oder sollte ich nicht besser sagen: Entzieht uns das letzte bisschen Atemluft, das letzte bisschen Freiheit, das wir noch haben.»Ich kenne da einen kleinen Park, direkt am Wasser. Da kannst du die beiden Brücken sehen. Willst du da hin? Wir fahren mit der U-Bahn. «Ich sehe mich nach einem Taxi um, obwohl ich sie vorher noch darüber belehrt habe, wie teuer Taxifahren hier ist.»Es ist ein schöner Park, er wird dir bestimmt gefallen … Aber wir können natürlich auch zu Fuß gehen. «Als würde ich mich hier auskennen, als hätte ich irgendeine Ahnung von New York. Nach zehn Tagen, während derer ich sie täglich angerufen habe, um unseren sinnlosen Machtkampf zu gewinnen.