«Aber warum kommst du nicht«, fragt sie, mitten in der Nacht. Eine schwarze Plastiktüte flattert im Wind mit stolzgeschwellter Brust über die Grand Street. Die Tüten in New York sind dünn und schwarz. Sie steigt auf und versucht über die Straße zu schweben. Wenn ich abends die Zeitung kaufe und in der hoffnungslos überfüllten Kühltruhe in dem Liquor Store an der Ecke noch nach einer Dose Chunky Monkey-Eis suche, tue ich immer so, als sei der Kauf des Eises ein spontaner Einfall. Der Verkäufer, dessen Oberkörper hinter einem mit Süßigkeiten, Zigaretten und Kaugummis gefüllten Plastikkasten versteckt ist, hält mir die geöffnete Tüte immer schon hin, während ich den Eindruck zu erwecken versuche, als müsste ich noch nachdenken. Eine Dose Chunky Monkey-Eis und die New York Times. Das sind meine Abende, nachdem Judith zurück nach Washington gefahren ist. Abende, die ich mit Informationen fülle, die kurz davor stehen, ihre Aktualität zu verlieren, während das Eis so schnell schmilzt, dass ich nie den Boden der Dose erreiche, bevor das Eis schon flüssig geworden ist. Ich weiß keine Antwort, außer dass ich die Oberhand behalten will und dass ich am liebsten sagen würde:»Es ist mein New York. Es ist das New York, das ich dir zeigen will. «Sie atmet schwer. Sie beugt sich vor, stützt sich auf ihren Oberschenkeln ab.»Die U-Bahn ist klimatisiert.«»Ich weiß«, sagt sie. Sie richtet sich auf.»Hast du Lust auf den Park?«, frage ich. Sie schaut mich an. Ich denke auf einmal an das Vampirgebiss. Das Vampirgebiss auf dem Flughafen in München, an dem Tag, als sie zum ersten Mal nach Washington geflogen ist. Es fällt mir einfach so ein, vielleicht weil ihre Lippen so trocken und brüchig sind. Das Vampirgebiss. Sie hat es ganz plötzlich im Mund. Ihre Zähne, die sie jeden Tag mit so großer Sorgfalt pflegt, sind unter dem Plastik auf einmal verschwunden.»Sollen wir?«, frage ich. Sie nickt, sie kriegt wieder Luft. Auf einmal will sie unbedingt Kaffee trinken. Aber diese Verzögerung habe ich nicht eingeplant. Es erscheint mir unmöglich, auf den Ausflug in den Fulton Park zu verzichten und stattdessen Kaffee trinken zu gehen. Sie denkt nur noch in kleinen Schritten. Wie Kinder, die nur daran denken, wie sie sich noch mehr mit Süßigkeiten vollstopfen können. Eine Stadt mit freiem Oberkörper. Gestählt und freigiebig vor sich hinschwitzend, während es in den Innenräumen immer kühl und angenehm bleibt. Die Hitze verausgabt sich, dehnt sich bis in alle Winkel, sehnt sich nach Verflüssigung und Auflösung. Wir gehen weiter. Weiter zur U-Bahn, weiter in der Schlange vor dem Port Authority Bus Terminal. Zwei, drei Reisende vor uns. Zwei oder drei Minuten. Minuten, die ein ganzes Leben verändern können. Und man könnte sagen: Je häufiger wir uns voneinander verabschieden, desto besser werden wir darin. Je öfter wir uns trennen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns wiedersehen.
Das Vampirgebiss besteht aus abwaschbaren Plastikzähnen, die so miteinander verbunden sind, dass die einzelnen Zähne, außer den beiden Eckzähnen, gar nicht richtig zu erkennen sind. Ich bekomme es nie in seinem ganzen Ausmaß zu Gesicht. Ich sehe es nur als Teil ihrer Zähne, als plötzliche Erweiterung, als Wuchern. Was genau mache ich eigentlich in New York? Will ich sie dazu überreden, schon vor der Beendigung ihres Praktikums zurückzukommen, nur weil ich mich in München ohne sie langweile? Wie sie in ihrem Bademantel morgens im Wohnzimmer sitzt und Kaffee trinkt. Ungeschminkt, in einem Zustand der Verpuppung, in unberührbarer Entfernung von sich selbst und von mir. Ich bleibe morgens manchmal eine Stunde länger im Bett, in der Hoffnung, sie könne sich in der Zwischenzeit schon in ihre von der Kosmetikindustrie verschönte Alltagserscheinung verwandelt haben, als die ich sie tagsüber und abends verehre. In diesem grünen, flauschigen Bademantel, den ich morgens fast lieber berühre als sie selbst. Sie hält einen kleinen Bleistiftstummel in der Hand und macht ihre windhauchartigen Anstreichungen in ihren Büchern, die sie samt und sonders wieder ausradiert, wenn sie die Bücher zurückgibt.»Wieso soll ich nach Washington kommen, wo du doch selbst gesagt hast, du würdest New York im Grunde gar nicht kennen?«, sage ich am Telefon. Ich erwähne den Vortrag von Mads Christiansen nicht. Ich spiele diesen Trumpf gar nicht aus. Sein Buch ist jetzt ins Englische übersetzt worden und auch in den USA erschienen. Der Kongress ist lediglich eine Ausrede, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wäre allein wegen ihr gekommen.»Vielleicht hänge ich noch eine Woche dran«, sage ich, als stünde der Zeitpunkt meines Abflugs nicht schon längst fest. Neurobiologische Erkenntnisse, die für das höhere Management zum Verständnis der Mitarbeiter von Bedeutung sein können.»Sie hätte dich auch gerne gesehen«, sage ich zu Mads Christiansen.»Aber sie hat zu viel zu tun. «Ein Faustpfand in unserem Machtkampf, in dem es nur um eins geht: New York oder Washington. Meine Stadt oder ihre Stadt. Tatsächlich habe ich mich der Illusion hingegeben, Judith würde Mads Christiansen wiedersehen wollen, den sie noch von seinen Besuchen in München kennt. Am Ende, aber das ist nur ein Verdacht, mag sie ihn vor allem deswegen, weil er schwul ist und weil sie die Phantasie durchspielen kann, es könne ihr früher oder später gelingen, ihn auch in erotischer und nicht nur emotionaler Hinsicht für sich zu gewinnen. Als er einmal bei uns zu Besuch ist, macht er ihr, während sie im Morgenmantel am Frühstückstisch sitzt, ein Kompliment. Sie sagt:»Es tut mir leid, aber ich bin noch gar nicht richtig angezogen und geschminkt. «Und während ich» macht nichts «gesagt hätte, sagt Mads Christiansen einfach:»Du bist doch so noch viel schöner. Du siehst doch so noch viel besser aus. «Sie legt ihr Buch umgedreht auf den Tisch, sodass die Sätze von Pruniers Darfur. Der uneindeutige Genozid kopfüber auf unserem 3500 Euro teuren Glastisch liegen. Das Licht der Designerlampe mit den schwarzen Holzlamellen fällt auf ihr Gesicht. Sie strahlt ihn an. Ganz verrückt nach mehr, nach mehr morgendlichen Verführungskunststücken.»Du bist so noch viel schöner. «Das Buch liegt noch Tage später aufgeschlagen auf dem Wohnzimmertisch. Mir schaudert bei der Erinnerung daran, selbst in Gedanken schrecke ich noch davor zurück.