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Hätten wir uns vielleicht ein anderes Wochenende aussuchen sollen? Jetzt, kurz vor meinem Abflug, habe ich den Ventilator wieder ausgestellt, da ich Angst habe, die Bruchstücke des Tongefäßes werden in alle Winkel der Wohnung verteilt. Ich packe das grüne Plastikkreuz ein und auch den Inhalator, den ich aus München mitgebracht habe.»Es sind zwei Wochen«, sage ich zu Lambert.»Sobald ich zurückkomme, machen wir einen Termin. «Ich spüre, wie das Gefühl der Kränkung und Zurückweisung von ihm Besitz ergreift und immer mehr Raum in ihm einnimmt. Er will unbedingt wissen, wo ich hinfahre.»Und warum können Sie mir das nicht sagen? Ist Ihnen das zu intim?«Es ist kurz bevor die Stunde auf so dramatische Weise eskaliert.»Sie vertrauen mir nicht. Glauben Sie denn, dass ich Ihnen hinterherfahre?«Judith hält sich am Haltegriff in der U-Bahn fest und lässt ihren Blick über die Gesichter der Mitreisenden wandern.»Schneller, schneller«, sagt ihr Blick, aber dann lächelt sie mich wieder an. Sie hat überhaupt keine Ahnung, keine Idee, wie schön sie ist. Sie hält sich am Griff fest, in der U-Bahn, auf dem Weg zum Busbahnhof, schwankt leicht hin und her und schaut auf den Kopf eines älteren Mannes, der die Augen geschlossen hat.»Komm doch einfach her«, sagt sie am Telefon.»Wir können das Wochenende doch auch in Washington verbringen. «Ich lasse mich nicht darauf ein. Ich stehe vor der Telefonzelle, das Summen des Verkehrs, den warmen nächtlichen Wind, die ganze Stadt im Rücken, und schüttele den Kopf. Es ist nur ein Wochenende. Es ist nicht der Rede wert, aber es geht schief. Und ich frage mich, was eigentlich genau passiert, was genau schiefgelaufen ist. Was ist in New York passiert, frage ich mich, während ich am Fenster der Wohnung in Williamsburg stehe und in das feuchtdunkle Grau des Himmels hineinschaue.

4

Sie möchte alles kontrollieren, das Leben, ihre Gefühle. Sie möchte nichts dem Zufall überlassen. Es ist weniger ein Spaziergang als eine Bewährungsprobe. John F. Kennedy konnte keinen einzigen öffentlichen Auftritt ohne Schmerzmittel durchstehen, erklärt sie mir auf dem Spaziergang. Es hat ihr jemand bei der Arbeit erzählt. Seine Beine waren immerzu bandagiert, er trug orthopädische Schuhe und hatte ständig Durchfall, Prostata-Beschwerden und Harnweginfekte.»Findest du, dass er ein schöner Mann ist«, frage ich sie, während wir an der Divisionstreet vorbeigehen und die Gelegenheit verpassen, das jüdische Viertel anzuschauen. Dort, wo ich mit ihr eine Zeitreise machen, wo ich mit ihr in eine andere Welt eintauchen will, um vor einem Geschäft stehen zu bleiben, in dem man Nylons kaufen kann, die wie Stützstrumpfhosen aussehen und in denen Gardinen hängen, die seit zwanzig Jahren nicht mehr bewegt worden sind. Zwei Straßenzüge entfernt. Zurück in die 50er oder was davon übrig geblieben ist, aber wir gehen daran vorbei.»Gefällt er dir?«, frage ich.»Er ist tot«, sagt sie und möchte über ein anderes Thema sprechen. Ich stütze mich auf der Couch ab. Es ist alles fertig gepackt. Ich habe ihr den Inhalator aus München mitgebracht, aber wir sind schon auf der Straße, auf dem Weg zur Bedfort Avenue, als es mir einfällt, und ich fühle mich nicht in der Lage, die zwei Stockwerke durch das enge stickige Treppenhaus zurückzulaufen und ihn zu holen. Ich räume die Wohnung auf, die Warnsignale der zurücksetzenden Lastwagen im Ohr, die neue Lieferungen bringen. Die Arbeiter tragen die Fleischstücke zum Kühlhaus, das man vom Fenster aus nicht sehen kann. Sie hat keine Ahnung, wie sie aussieht. Sie hat nicht die geringste Idee. Es ist das Aufregende bei unseren Museumsbesuchen, dass ich sie nicht anfassen kann. Es ist ein Ort, an dem sogar die Blicke kontrolliert werden. Sie hat sich das Haar hochgebunden und stolziert an den Bildern vorbei, und ich schaue immer nur auf ihren Nacken, während sie, im Bewusstsein, dass ich sie berühren möchte, die Bilder anschaut. Ich habe das Gefühl, als wäre sie immer dabei, selbst auf der Schifffahrt, die ich mit Mads Christiansen mache. Immer läuft sie in Gedanken neben mir her, und ich muss sie manchmal gewaltsam von meinen eigenen Erinnerungen abtrennen, von den Erlebnissen, die ich ohne sie gehabt habe.»Kannst du dich noch erinnern, wie wir am Hudson River entlanggelaufen sind«, könnte ich sie fragen. Natürlich kann sie sich daran nicht erinnern. Am Hudson River bin ich mit Mads Christiansen gewesen. Der Spaziergang mit ihr endet am Port Authority Bus Terminal. Mit Mads Christiansen jogge ich am Hudson River entlang, und bis zuletzt bin ich fest entschlossen, dass ich das Schiff nicht betrete und stattdessen zurück nach Williamsburg fahre, um Judith anzurufen. Noch bei den Aufwärmübungen, bei der dritten oder vierten Kniebeuge, schon allein aus Verärgerung über Mads Christiansens absurdes Trainingsprogramm, geht mir der Satz durch den Kopf:»Natürlich kann ich nach Washington kommen. Du hast ja recht. Es ist totaler Quatsch. Ich weiß gar nicht, warum ich nicht gleich darauf gekommen bin.«

Wir sind schon eine Stunde auf dem Schiff, als es endlich ablegt. Auf dem riesigen Werbeplakat, das an Schnüren quer über das halbe Schiff gespannt ist, steht in Großbuchstaben:»Gay-Sunday-Tea-Dance«. Die Stimmung ist angenehm, alle sind freundlich. Es macht mir nichts aus, dass ich niemanden kenne. Mads Christiansen stellt mich jedem als erfolgreichen Familientherapeuten aus Deutschland vor.»Nein«, sage ich jedes Mal auf Englisch.»Ich selbst habe keine Familie«, und alle lachen, weil sie natürlich denken, dass ich auch schwul bin. Auf einem Tisch liegen Flyer und Prospekte der Filmproduktionsfirma, die den Abend veranstaltet. Es geht um eine Pornofilmproduktion, die Wicked Pictures heißt. Ich denke jetzt, dass das der größte Fehler meiner New York-Reise gewesen ist. Die Idee, mit Mads Christiansen und seinen schwulen New Yorker Freunden eine Dampferfahrt auf dem Hudson River zu machen, anstatt mit Judith in einem mexikanischen Restaurant in Washington zu sitzen und Burritos zu essen. Als ich am Buffet stehe, spricht mich ein Freund von Mads Christiansen an, den ich in meiner Erinnerung immer nur den Schnauzbärtigen nenne. Er ist ein hagerer, asketischer Mann mit einem schmalen Schnäuzer und arbeitet als Investment-Banker in Manhattan. Mads Christiansen hat ihn mir vorgestellt, aber ich habe seinen Namen vergessen. Sein Gesichtsausdruck ist wohlwollend, aber auch spöttisch. Ich frage mich, was er von mir will. Wollen hier alle etwas voneinander? Oder ist es nur Konversation?» Do you like porn?«, fragt er mich später auf dem Oberdeck, als die Präsentation von Wicked Pictures beginnt und wir uns wiedersehen, nachdem ich zuvor vor ihm geflohen bin und mich mitsamt meinem mit Hähnchenbeinen und Nudelsalat vollgeschaufelten Teller auf der Toilette versteckt habe.»Do you like porn?«Mein Eindruck ist, dass Mads Christiansen mich nur deswegen zu der Schiffstour mitnimmt, weil er mir vorführen will, wie beliebt er ist. Wenn er ein neues Buch schreibt, schließt er sich immer mehrere Wochen ein und unterwirft sein Leben einer martialischen Disziplin. Seinen Schlaf-Rhythmus ändert er so, dass er alle drei Stunden eine halbe Stunde schläft, um danach wieder drei Stunden arbeiten zu können. Bei diesem Rhythmus hat er sich angeblich von einem Weltumsegler inspirieren lassen, der sich natürlich keine längeren Schlafpausen erlauben kann. Aber in Wirklichkeit ist dieses Programm, wie ich zufällig weiß, eine exakte Kopie der grausamen und familienverachtenden Arbeitswut seines Vaters, der sich mit fünfundvierzig Jahren das Leben genommen hat, weil sein Kopenhagener Unternehmen, das Schaltkreise produziert hat, plötzlich pleitegegangen ist.»Es ist wie auf hoher See«, sagt Mads Christiansen zu dem Schnauzbärtigen, der die ganze Zeit um ihn herumscharwenzelt.»Es ist eine Frage der inneren Haltung, aber auch eine Frage der Leidenschaft. «Der Schnauzbärtige grinst mich an. Ich flüchte mich auf die Toilette. Ich wasche mir die Hände unter einem mickrigen lauwarmen Wasserstrahl und halte sie so lange unter den Trockner, bis ich mir sicher sein kann, dass er nicht mehr da ist.