Immer neue Gäste kommen, immer mehr Freunde von Mads Christiansen und schließlich auch sein Co-Autor, dessen Texte Mads Christiansen immer so lange überarbeitet, bis sie klingen wie seine eigenen. Er trägt einen schwarzen Anzug und ein Barett und fällt damit völlig aus der Rolle. Ich habe das Gefühl, alle sind in ständiger Bewegung, um sich miteinander bekannt zu machen, obwohl es dann doch so scheint, als würde jeder jeden kennen. Das Schiff besteht aus zwei Etagen. Einem unter Deck gelegenen Raum mit Bullaugen und dem mit einer Plane zum Himmel hin abgeschlossenen Oberdeck, auf dem der größte Teil der Veranstaltung stattfindet. Zwei Treppen verbinden die Räume miteinander, und es gibt ein kleines Zwischendeck, auf dem man unter freiem Himmel steht und die beste Sicht hat. Wir umkreisen die Freiheitsstatue, und auf dem Zwischendeck drängen sich die Gäste mit vollen Papptellern, um das zu sehen, was sie schon kennen. Das Buffet ist von großzügiger Lieblosigkeit. Unglaubliche Mengen von Hähnchenschenkeln, gebackenen Kartoffeln und Berge von Nudelsalat lassen sich miteinander kombinieren. Ich brauche eine halbe Stunde, bis ich endlich nach oben gehe, wo, wie Mads Christiansen sagt,»die Musik spielt«. Mads Christiansen hat die Fähigkeit, alles auszublenden, was ihn nicht weiterbringt. Selbst die Tatsache, dass er nichts von Beziehungen versteht und sich darüber eigentlich kein Urteil erlauben kann.»Du kannst doch nicht hingehen und an ihrer Promotion herumfummeln«, sagt er einmal, als wir bei seinem Besuch in München am Abend noch im Café sitzen und ich ihm erzähle, ich hätte ein paar Kapitel von Judiths Arbeit gelesen. Mads Christiansen behauptet, dass man in Beziehungen hundertprozentig loyal sein müsse und dass er genau deswegen auch keine habe.»Du schreibst, es seien Halbnomaden, aber du definierst das überhaupt nicht«, sage ich zu ihr. Ich mache Vorschläge, wie man die Gliederung ändern könnte. Sie behauptet, sie habe das alles im Kopf.»›Die moralische Geografie Darfurs‹, das finde ich schön, aber ich glaube, es ist ein Zitat, und dann musst du … «Sie schaut mich wütend an. Oder: Sie schaut mich so an, dass ich nicht anders kann, als zu denken, sie sei vielleicht wütend.»Was meinst du mit moralischer Geografie, was ist daran moralisch?«Ich verstehe nicht das Geringste von Darfur. Ich weiß nicht mal, wo es liegt. Ich lege die Überreste des arabischen Tongefäßes wieder ins Regal, schreibe eine Nachricht an Michael und Janette und lege zwanzig Dollar auf den Tisch. Ich habe vielleicht noch eine halbe Stunde.»Ich würde ›transhuman‹ oder ›Halbnomade‹, ich würde das definieren. Das kannst du in einer Fußnote machen«, sagte ich zu ihr. Ich verbringe einen ganzen Sonntag auf einem Schiff mit schwulen Männern, die darauf warten, dass eine Pornofilm-Produktion ihre Darsteller präsentiert. Hat es mit meiner Kritik zu tun, dass sie das Thema kurze Zeit später aufgibt? Beendet sie deswegen ihre Karriere als Ethnologin und fängt ein Praktikum bei der Robert Kennedy Stiftung an? Ich gehe mehrmals zum Buffet, um dem Gespräch mit Mads Christiansen auszuweichen. Ich frage mich, ob ich mich auffällig verhalte, in der Art, wie ich esse, wie ich das Fleisch mit der Plastikgabel von dem Knochen abzuschaben versuche. Neben mir stehen zwei Männer, die mit ihren Hosenträgern über ihren T-Shirts wie erschöpfte Komödianten aussehen und ihre Zweisamkeit so sehr zelebrieren, dass ich wegschauen muss. Die abgenagten Hähnchenschenkel auf meinem Teller sehen wie ein Kruzifix aus, und ich überlege, wie ich den Teller wieder loswerden kann und ob ich ihn nicht einfach ins Meer werfen soll. Judith wirft auf Reisen ihren Müll nicht einfach so weg. Ich erinnere mich, wie wir einmal eine Cola-Dose von einer sizilianischen Insel bis nach München transportiert haben, nur damit sie sie am Morgen nach unserer Ankunft in unsere gelbe Wertstofftonne werfen kann. Und natürlich spült sie die Cola-Dose noch auf der Insel gründlich aus. Als könnte sie schlecht riechen. Wie könnte ich da einen fettigen Pappteller mit einem Hähnchenkruzifix einfach ins Meer werfen? Aber es gibt keinen Mülleimer, alle halten die Pappteller in ihren Händen und schauen auf die Freiheitsstatue.»Sie wartet doch auf dich«, sagt Mads Christiansen. Seine fast lüsterne Art, sich in mein Beziehungsleben einzumischen. Ich schaue auf den Pappteller, auf dem die Hähnchenschenkel wieder verrutscht sind und das» Kreuz «auseinanderzufallen droht. Soll ich ihn die ganze Zeit mit mir herumtragen?» Das Meteoritengestein ist verglüht«, heißt es in Mads Christiansens Buch über Evolutionsmanagement,»aber durch den Einschlag hat sich das vorhandene Gestein in der Umgebung so verändert, dass man noch immer Spuren finden kann. Wie geht man mit Einflussfaktoren um, die nicht planbar sind. Wie bereitet man sein Unternehmen darauf vor?«, lautet die» Transferfrage«. Das Buch steht in meiner Praxis, aber ich habe kaum darin gelesen, obwohl ich ihm gegenüber immer so tue, als würde ich es genau kennen. Ich kann schließlich nichts anderes machen, als den Teller in einem unbeobachteten Moment zur Seite zu kippen und ganz unauffällig ins Wasser fallen zu lassen. Der Aufprall ist lautlos, der Teller treibt ab, und ich fange den versonnenen Blick eines gebräunten Schönlings auf, der sich am Geländer der nach oben führenden Treppe festhält. Wehmütig schaut er dem Teller hinterher. Ich grinse ihn an, entschlossen, nicht das Geringste zu meiner Entschuldigung vorzubringen, aber in diesem Moment merke ich auf einmal, wie sehr mich der Anblick des davontreibenden Tellers aus dem Gleichgewicht bringt. Ein Teller, den Judith zweifellos nicht im Stich gelassen hätte. Er treibt davon, langsamer, als ich es gehofft habe. Plötzlich ist die gesamte Gruppe der an der Reling stehenden Gäste auf ihn aufmerksam geworden. Aber der blonde Schönling verrät mich nicht. Sein Blick ist von einer gewissen Traurigkeit. Er ignoriert mich, den Blick fest auf den Teller gerichtet, der als weißer, strahlender Kreisel im brackigen Grau des Wassers außer Sicht gerät. Ich denke noch eine ganze Weile, und ich denke es ohne die geringste Ironie, ohne den geringsten Sinn für die Komik, die in dieser ganzen Episode liegt:»Wie um Gottes willen konnte ich ihr das antun?«Und ich schreibe es sogar später in mein Notizbuch:
Wie konnte ich ihr das bloß antun. Wie um Himmels willen? Der schneeweiße immer kleiner werdende Pappteller, der immerhin, ein schwacher Trost, jetzt Richtung Manhattan treibt, wo irgendjemand, der Judiths Seele wirklich gewogen und ihr ein wirklicher Begleiter und Liebender ist, am Ufer steht und den Teller aus dem Wasser zieht, ihn reinigt und seiner Bestimmung zuführt. Ich verliere ihn immer mehr aus den Augen. Und je länger ich hinschaue, desto mehr scheint es mir, er könnte auseinanderfallen, in zwei ungleiche Hälften, und er würde eine große Leere hinterlassen.