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Kern beschloß zu versuchen, nachts noch bis Preßburg zu kommen und von da nach Prag. Eine Stadt war immer am sichersten. Er öffnete seinen Koffer und nahm das saubere Hemd und ein Paar Strümpfe hervor, um sich umzuziehen. Er wußte, daß es wichtig war, wenn ihm jemand begegnete. Er wollte es auch, um das Gefängnis loszuwerden.

Es war ihm sonderbar zumute, als er nackt im Mondlicht dastand. Er kam sich wie ein verlorenes Kind vor. Rasch nahm er das frische Hemd, das im Grase vor ihm lag, und streifte es über. Es war ein blaues Hemd und das war praktisch, denn es schmutzte nicht so leicht. Im Mondlicht sah es fahlgrau und violett aus. Er nahm sich vor, mutig zu bleiben.

3

Kern kam nachmittags in Prag an. Er ließ seinen Koffer am Bahnhof und ging sofort zur Polizei. Er wollte sich nicht melden; er wollte nur in Ruhe nachdenken, was er tun sollte. Dazu war das Polizeigebäude der beste Platz. Dort streiften keine Polizisten umher und fragten nach Papieren. Er setzte sich auf eine Bank im Korridor. Gegenüber lag das Büro, in dem die Fremden abgefertigt wurden.»Ist der Beamte mit dem Spitzbart noch da?«fragte er einen Mann, der neben ihm wartete.

»Ich weiß nicht. Der, den ich kenne, hat keinen.«

»Aha! Kann sein, daß er versetzt ist. Wie sind sie denn jetzt hier?«

»Es geht«, sagte der Mann.»Ein paar Tage Aufenthalt kriegt man schon. Aber nachher wird’s schwer. Es sind zu viele hier.«

Kern überlegte. Wenn er ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis erhielt, konnte er beim Komitee für Flüchtlingshilfe für ungefähr eine Woche Eß- und Schlafkarten bekommen, das wußte er von früher her. Wenn er sie nicht bekam, riskierte er, daß man ihn einsperrte und zurück über die Grenze schob.

»Sie sind dran«, sagte der Mann neben ihm.

Kern sah ihn an.»Wollen Sie nicht vorgehen? Ich habe Zeit.«

»Gut.«

Der Mann stand auf und ging hinein. Kern beschloß abzuwarten, was mit ihm passierte, um sich dann zu entscheiden, ob er selbst hineingehen sollte oder nicht. Unruhig wanderte er auf dem Korridor hin und her. Endlich kam der Mann wieder heraus. Kern ging rasch auf ihn zu.»Wie war es?«fragte er.

»Zehn Tage!«Der Mann strahlte.»So ein Glück! Und ohne zu fragen. Muß gut gelaunt sein. Oder vielleicht, weil heute nicht so viele da sind. Das letztemal hatte ich nur fünf Tage.«

Kern gab sich einen Ruck.»Dann werde ich es auch versuchen.«

Der Beamte hatte keinen Spitzbart. Trotzdem kam er Kern bekannt vor. Vielleicht hatte er sich den Bart inzwischen abnehmen lassen. Er spielte mit einem zierlichen Federmesser aus Perlmutter und warf einen müden Fischblick auf Kern.»Emigrant?«

»Ja.«

»Aus Deutschland gekommen?«

»Ja. Heute.«

»Irgendwelche Papiere?«

»Nein.«

Der Beamte nickte. Er ließ die Klingen seines Messers zuschnappen und klappte den Schraubenzieher auf. Kern sah, daß in der perlmutternen Schale außerdem noch eine Nagelfeile eingelassen war. Der Beamte begann vorsichtig damit seinen Daumennagel zu glätten.

Kern wartete. Es schien ihm, als wäre der Nagel des müden Mannes vor ihm das Wichtigste auf der Welt. Er wagte kaum zu atmen, um ihn nicht zu stören und ärgerlich zu machen. Er preßte nur verstohlen die Hände auf dem Rücken fest aneinander.

Der Nagel war endlich fertig. Der Beamte besah ihn befriedigt und blickte auf.»Zehn Tage«, sagte er.»Sie können zehn Tage hier bleiben. Dann müssen Sie ’raus.«

Die Spannung in Kern löste sich jäh. Er glaubte, er fiele, aber er atmete nur tief. Dann faßte er sich rasch. Er hatte gelernt, den Zufall festzuhalten.»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich vierzehn Tage haben könnte«, sagte er.

»Das geht nicht. Warum?«

»Ich warte darauf, daß mir Papiere nachgeschickt werden. Dazu muß ich eine feste Adresse haben. Ich möchte dann nach Österreich.«

Kern hatte Angst, im letzten Augenblick noch alles zu verderben; aber er konnte nicht mehr zurück. Er log glatt und schnell. Er hätte ebensogern die Wahrheit gesagt, aber er wußte, daß er lügen mußte. Der Beamte dagegen wußte, daß er diese Lügen glauben mußte – denn es gab keine Möglichkeit, sie zu kontrollieren. So kam es, daß beide fast glaubten, von der Wahrheit zu reden.

Der Beamte ließ den Schraubenzieher seines Messers zuschnappen.»Gut«, sagte er.»Ausnahmsweise vierzehn Tage. Aber es gibt dann keine Verlängerung.«

Er nahm einen Zettel und begann zu schreiben. Kern sah ihm zu, als schriebe ein Erzengel. Er konnte kaum fassen, daß alles so geklappt hatte. Bis zum letzten Augenblick erwartete er, daß der Beamte in der Kartothek nachsehen und feststellen könnte, daß er schon zweimal in Prag war. Zur Vorsicht gab er deshalb einen anderen Vornamen und falsche Geburtsdaten an. Er konnte dann immer noch behaupten, das damalls sei ein Bruder von ihm gewesen.

Aber der Beamte war viel zu müde, um etwas nachzusehen. Er schob Kern den Zettel hin.»Hier! Sind noch mehr draußen?«

»Nein, ich glaube nicht. Vorhin wenigstens war niemand mehr da.«

»Gut.«

Der Mann zog ein Taschentuch hervor und begann liebevoll die Perlmutterschalen seines Messers zu putzen. Er merkte kaum noch, daß Kern sich bedankte und dann so rasch hinausging, als könne ihm sein Papier noch jetzt wieder abgenommen werden.

Erst draußen vor dem Tor des Gebäudes blieb er stehen und sah sich um. Du süßer Himmel, dachte er überwältigt, du süßer, blauer Himmel! Ich bin zurückgekommen und nicht eingesperrt worden! Ich brauche vierzehn Tage lang keine Angst zu haben, vierzehn volle Tage und vierzehn Nächte, eine Ewigkeit! Gott segne den Mann mit dem Perlmuttermesser! Möge er demnächst eins finden, das noch eine versenkbare Uhr und eine goldene Schere enthält.

Neben ihm vor dem Eingang stand ein Polizist. Kern fühlte nach dem Ausweis in seiner Tasche. Mit einem Entschluß trat er dann auf den Polizisten zu.»Wie spät ist es, Wachtmeister?«fragte er.

Er hatte selbst eine Uhr bei sich. Aber es war ein zu seltenes Erlebnis, einmal vor einem Polizisten keine Angst haben zu brauchen.

»Fünf«, brummte der Polizist.

»Danke.«Kern ging langsam die Treppe hinunter. Er wäre am liebsten gelaufen. Jetzt erst glaubte er, daß alles wirklich wahr war.

DER GROSSEWARTERAUM des Komitees für Flüchtlingshilfe war überfüllt mit Menschen. Trotzdem wirkte er auf eine sonderbare Weise kahl. Die Leute standen und saßen im Halbdunkel herum wie Schatten. Fast niemand sprach. Jeder hatte alles, was ihn anging, schon hundertmal gesagt und besprochen. Jetzt gab es nur noch eins, zu warten. Es war die letzte Barriere vor der Verzweiflung.

Über die Hälfte der Anwesenden waren Juden. Neben Kern saß ein bleicher Mensch mit einem Birnenschädel, der einen Geigenkasten auf den Knien hielt. Auf der andern Seite hockte ein alter Mann, über dessen gebuckelte Stirn eine Narbe lief. Er öffnete und schloß ruhelos die Hände. Daneben saßen, eng zusammengeschmiegt, ein blonder, junger Mann und ein dunkles Mädchen. Sie hielten die Hände fest ineinander verschränkt, als fürchteten sie, wenn ihre Aufmerksamkeit nur einen Augenblick nachließe, auch hier noch auseinandergerissen zu werden. Sie sahen sich nicht an; sie sahen irgendwohin in den Raum und in die Vergangenheit hinein, und ihre Augen waren leer von Gefühl. Hinter ihnen saß eine dicke Frau, die lautlos weinte. Die Tränen liefen ihr aus den Augen, über die Wangen und das Kinn auf das Kleid; sie achtete nicht darauf und machte keinen Versuch, sie aufzuhalten. Ihre Hände lagen schlaff in ihrem Schoß.

In dieser schweigenden Ergebenheit und Trauer spielte unbefangen ein Kind. Es war ein Mädchen von ungefähr sechs Jahren. Lebhaft und ungeduldig, mit glänzenden Augen und schwarzen Locken, wanderte es umher.

Vor dem Mann mit dem Birnenschädel blieb es stehen. Es blickte ihn eine Zeitlang an; dann zeigte es auf den Kasten, den er auf den Knien hielt.»Hast du eine Geige darin?«fragte es mit einer klingenden, fordernden Stimme.