Danach war – was gekommen? Nicht Apathie, nicht ganz. Er hatte sich mit den täglichen Problemen befaßt: Vertragsangebote; Unbehagen über Fentons häusliche Schwierigkeiten; hundert Dinge, große und kleine. Bis heute nacht hatte er sich vor der Bedeutung des Krieges gleichsam hinter einer Mauer versteckt. Feuer und Messer hatten diese Mauer zerstört und ihm wieder eine grundsätzliche Lektion ins Gedächtnis gerufen. Zum Teufel mit den Narren, die ganz fröhlich ›nur‹ einen Neunzig-Tage-Konflikt voraussagten. Für Tod und Ruin reichten kurze Augenblicke aus.
Sein Herz hämmerte. Ihm war schlecht. Jenseits der niedergerissenen Mauer erkannte er die Drohung, der er sich in den vergangenen beiden Wochen zu entziehen gesucht hatte. Die Bedrohung betraf das Leben jener, die ihm am meisten auf dieser Welt bedeuteten, das langsam und sorgfältig geschmiedete Band zwischen seiner Familie und der Familie der Mains in South Carolina. Das Feuer hatte ihm gezeigt, wie zerbrechlich dieses Band war. Zerbrechlich wie Fenton und die anderen beiden und das Haus, das sie mit all ihren Leidenschaften, Unzulänglichkeiten und Träumen beherbergt hatten. Von all dem war nur Asche übriggeblieben, die der Wind um ihn herumwirbelte.
Wie er so nach Mitternacht am 1. Mai diesen Hügel in Pennsylvania hochritt, da konnte er der Glut einer kleinen, bald vergessenen häuslichen Tragödie den Rücken zuwenden – ein Klischee in ihrer Häufigkeit und Gewöhnlichkeit; und so gottverdammt erschreckend und herzzerbrechend, wenn man es vor Augen hatte. Physisch konnte er sich abwenden, aber nicht psychisch. Seine Vision griff über die vergangenen zwei Wochen hinaus und umfaßte zwei Dekaden.
Die Hazards, Eisenhüttenbesitzer aus Pennsylvania, und die Mains, Reispflanzer aus South Carolina, hatten ihre ersten Bande geknüpft, als sich je ein Sohn aus jedem Haus an einem Sommernachmittag des Jahres 1842 auf einem Pier im New Yorker Hafen begegneten. An diesem Tag schlossen George Hazard und Orry Main Bekanntschaft, auf einem Schiff, das den Hudson River Richtung Norden hochfuhr. Als sie an Land gingen, wurden aus ihnen Kadetten in West Point.
Dort erlebten und überlebten sie so vieles, was ihr spontanes Zusammengehörigkeitsgefühl verstärkte. Da war einmal die Kopfarbeit – leicht für George, der keine große Sehnsucht nach einer militärischen Karriere hatte; schwer für Orry, der nichts anderes anstrebte. Sie schafften es, die Schindereien eines hinterlistigen – einige behaupteten: verrückten – Studenten in höherem Semester namens Elkanah Bent zu ertragen, sie erreichten sogar nach einer Serie besonders abscheulicher Taten, die er begangen hatte, seinen Rausschmiß. Doch Washingtoner Einfluß hatte Bent wieder auf die Militärakademie zurückgebracht, und bei seiner Graduierung hatte er George und Orry versprochen, daß er nichts vergessen und ihnen ihre sämtlichen Sünden zurückzahlen werde.
Die Mains und die Hazards lernten einander kennen, während die lange Zündschnur des Partikularismus zum Pulver der Sezession niederbrannte. Besuche waren abgestattet worden, Bündnisse hatten sich geformt – auch Haß hatte es gegeben. Selbst George und Orry hatten ernsthaft miteinander gestritten. George weilte gerade zu Besuch auf der Main-Plantage, Mount Royal, als ein Sklave flüchtete, der gefaßt und auf Befehl von Orrys Vater grausam bestraft wurde. Der anschließende Streit stellte die größte Belastungsprobe ihrer Freundschaft dar, und beinahe wäre sie durch die Entzweiung, die wie ein langsam wirkendes Gift in den Blutkreislauf des Landes sickerte, zerstört worden.
Der Mexikanische Krieg, bei dem die beiden Freunde im gleichen Infanterieregiment als Lieutenants dienten, trennte sie schließlich auf unerwartete Art und Weise. Captain ›Butcher‹ Bent schickte George und Orry an der Churubusco Road in den Kampf, wo ein Bombensplitter Orrys linken Arm wegriß und seine Träume von einer militärischen Laufbahn zerstörte. Kurz darauf rief George die Nachricht vom Tode von Hazard senior heim, weil seine Mutter, mit gesundem Instinkt ausgestattet, Georges älterem Bruder Stanley nicht zutraute, das gewaltige Familiengeschäft vernünftig zu lenken. Bald nachdem er das Kommando bei Hazard übernommen hatte, entriß George seinem ehrgeizigen, verantwortungslosen Bruder die Führung über die Eisenwerke.
Die Amputation seines linken Arms versetzte Orry zeitweilig in brütende, einsiedlerische Stimmung. Aber nachdem er erst einmal gelernt hatte, mit einer Hand Arbeiten auszuführen und die Plantage zu leiten, stand er dem Leben wieder optimistischer gegenüber, und seine Freundschaft mit George erneuerte sich von selbst. Orry war Trauzeuge, als George Constance Flynn heiratete, das römisch-katholische Mädchen, das er auf dem Weg nach Mexiko in Texas kennengelernt hatte. Dann beschloß Georges jüngerer Bruder Billy, die Akademie zu besuchen, während Orry, verzweifelt auf der Suche nach einer Möglichkeit, seinen verwaisten Cousin Charles vor dem Leben eines Taugenichts zu bewahren, diesen überredete, sich bei der Akademie zu bewerben. Bald schon entsprach die Freundschaft von Charles Main und Billy Hazard, die sich zuvor schon gekannt hatten, derjenigen der beiden älteren West-Point-Absolventen.
In der letzten Friedensdekade blieben viele Nord- und Südstaatler persönliche Freunde, trotz der immer heftiger werdenden Rhetorik, den immer schärferen Drohungen der politischen Führer auf beiden Seiten. Auch diese beiden Familien hielten es so. Mains kamen nach Norden, Hazards reisten gen Süden – allerdings in keinem Fall ohne Schwierigkeiten.
Georges Schwester Virgilia, deren leidenschaftliche Sklavenbefreiungsideen längst die Grenze zum Extremismus überschritten hatten, hätte beinahe das Band der Freundschaft gelöst, als sie während eines Hazard-Besuches auf der Plantage einem Main-Sklaven zur Flucht verhalf.
Orrys wunderschöne, aber charakterlose Schwester Ashton hatte eine Zeitlang an Billy Gefallen gefunden, aber bald schon erkannte dieser die Güte und Aufrichtigkeit von Ashtons jüngerer Schwester Brett. In vielerlei Hinsicht ebenso halsstarrig und verrückt wie Virgilia, hatte die zurückgewiesene Ashton auf ihren Moment der Rache gewartet; sie zettelte eine Verschwörung an, um Billy in einem an den Haaren herbeigezogenen Duell ermorden zu lassen, keine zwei Stunden nach seiner Hochzeit mit Brett in Mont Royal. Cousin Charles hatte das Komplott in seiner direkten Kavallerieoffiziersart angepackt – das heißt, ziemlich gewalttätig –, und Orry hatte Ashton und ihren Mann, den extremistischen Südstaatler James Huntoon, für immer vom Land der Mains verbannt.
Virgilias schwarzer Geliebter, der Sklave, bei dessen Flucht sie geholfen hatte, war als Mitglied von John Browns mörderischer Bande bei Harpers Ferry erschossen worden. Virgilia, die das miterlebt hatte, war voller Panik nach Hause geflohen und befand sich deshalb in jener Nacht, in der Orry seinen gefährlichen Besuch abstattete, auf Belvedere. Dieser Besuch und die Umstände, die dazu geführt hatten, gingen einem nachdenklichen George durch den Kopf, als er das letzte steile Straßenstück nach Belvedere hochritt.
Orrys bilderstürmender älterer Bruder Cooper war für gewöhnlich anderer Meinung gewesen als die meisten Südstaatler, wenn es um ihre ganz spezielle Institution ging. Als Gegenbeispiel einer auf Landarbeit basierenden Ökonomie, die den Besitz von Menschen erforderlich machte, hatte er den Norden angeführt keineswegs perfekt, aber ein Schritt in das neue, weltweit angebrochene Zeitalter der Industrialisierung. Im Norden strebten freie Arbeiter unter dem Dröhnen der Maschinen einer blühenden Zukunft entgegen, ohne die Last überalterter Methoden und Ideologien, die so schwer waren wie Handschellen und ebenso hinderlich. Was die traditionelle Ausrede von Coopers Staat und Region anbelangte, daß die Sklaven mehr Sicherheit besaßen und deshalb glücklicher waren als die Fabrikarbeiter in den Nordstaaten, die mit unsichtbaren Ketten an riesige, hämmernde Maschinen geschmiedet waren, so lachte er nur darüber. Ein Fabrikarbeiter konnte tatsächlich bei dem Lohn verhungern, den die Unternehmer ihm zahlten. Aber er konnte weder gekauft noch verkauft werden wie gewöhnliches Hab und Gut. Er konnte jederzeit gehen, und niemand würde ihn verfolgen; kein Arbeiter würde wieder eingefangen, ausgepeitscht und am Schwungrad seiner großen Maschine aufgehängt werden.