»Sie wollten ja seine Verteidigung hören, Lucky«, meldete Morriss sich wieder zu Wort. »Das ist sie. Er hat keine.«
»Ich gehe davon aus, daß dir bekannt ist, daß sich kurz nachdem du die Unterlagen an dich genommen hast, in der Hefefabrik ein Unfall ereignet hat. Es ging um die Hefeart, von der in den Akten die Rede war«, fuhr Lucky fort.
»Das weiß ich alles«, erwiderte Evans.
»Hast du eine Erklärung dafür?«
»Nein, ich habe keine Erklärung dafür.«
Lucky beobachtete Evans genau. Er versuchte hinter der Maske den gutmütigen, humorvollen, nervenstarken Jungen, den er von der Akademie her kannte, zu entdecken. Was die äußere Erscheinung betraf, entsprach der Mann, der vor Lucky stand, seiner Erinnerung vollkommen, wenn man einmal von dem frisch gewachsenen Schnurrbart, den er sich nach Venussitte hatte wachsen lassen, absah. Die selbe langgliedrige Statur, die kurzgeschnittenen blonden Haare, das eckige vorspringende Kinn und der durchtrainierte, schmalhüftige Körper, aber sonst? Evans Augen wanderten unstet durch den Raum; seine Lippen waren ausgetrocknet und zitterten; seine Fingernägel zerkaut und abgenagt.
Lucky kämpfte mit sich, bevor er die nächste brutale Frage stellen konnte. Schließlich sprach er mit einem Freund, einem Mann, den er gut gekannt hatte, dessen Loyalität er nie im Leben in Zweifel gezogen hätte, für dessen Verläßlichkeit er ohne nachzudenken seine Hand ins Feuer gelegt hätte.
»Hast du dich kaufen lassen, Lou?« fragte Lucky.
»Kein Kommentar«, erwiderte Evans mit schleppender tonloser Stimme.
»Lou, ich frage dich noch einmal. Aber zunächst möchte ich, daß du weißt, daß ich auf deiner Seite stehe, egal was du angestellt hast. Wenn du im Dienst für den Wissenschaftsrat Unrecht begangen hast, muß es einen Grund dafür geben. Nenne uns diesen Grund. Vielleicht bist du unter Drogen gesetzt oder mit Hilfe von physischem oder psychischem Druck dazu gezwungen worden. Vielleicht wirst du erpreßt, oder jemand, der dir nahesteht, wird bedroht. Sag' es uns doch. Um der Erde willen, Lou, selbst wenn du dich von Geld oder Machtangeboten hast locken lassen, selbst wenn es etwas so primitives ist, sag' es uns. Es gibt keinen Fehler, den du gemacht hast, der nicht zumindest durch Offenheit wiedergutgemacht werden könnte. Also, was ist?«
Einen Augenblick lang wirkte Lou Evans bewegt.
Er hob seine blauen Augen und blickte den Freund schmerzerfüllt an. »Lucky«, fing er an, »ich.«
Das Nachgeben in seinem Blick schien zu sterben und er rief laut: »Kein Kommentar, Starr.«
Die Arme vor der Brust verschränkt, sagte Morriss: »Das wär's gewesen, Lucky. Das ist die Haltung, die er einnimmt. Aber er verfügt über Informationen, die wir haben wollen, und ich schwöre bei der Venus, daß wir sie so oder so aus ihm herausholen werden.«
»Warten Sie.«, begann Lucky.
»Wir können es uns nicht leisten, noch länger zu warten«, unterbrach Morriss. »Wir haben keine Zeit mehr. Nicht eine Minute. Diese sogenannten Unfälle werden immer ernster, je näher sie ihrem Ziel kommen. Wir müssen die Angelegenheit jetzt erledigen.« Seine fleischige Faust krachte gerade auf die Stuhllehne, als die Sprechanlage schrill zu klingeln begann.
Morriss runzelte die Stirn. »Notruf! Was, beim All.«
Er hob den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr.
»Morriss hier. Was gibt es?. Was?... Was?«
Er legte auf und sein Gesicht hatte eine teigig-weiße, ungesunde Farbe angenommen, als er sich nun Lucky zuwandte.
»An Schleuse Dreiundzwanzig ist ein hypnotisierter Mann«, würgte er hervor.
Luckys schlanker Körper spannte sich wie eine Stahlfeder. »Was meinen Sie mit >Schleuse<? Sprechen Sie von der Kuppel?«
Morriss nickte bestätigend, und es gelang ihm herauszubringen: »Ich sagte doch, daß die Unfälle ernster werden. Diesmal ist es die Meereskuppel. Dieser Mann könnte. jede Sekunde. den Ozean in das Innere von Aphrodite lassen!«
V
»Achtung Wasser!«
Aus dem dahinjagenden Gyrocar heraus, konnte Lucky einige kurze Blicke auf die mächtige Kuppelkonstruktion hoch über ihnen werfen. Um eine Stadt unter Wasser zu bauen und funktionstüchtig zu erhalten, bedurfte es einer Anzahl technologischer Wunderleistungen, ging es Lucky durch den Kopf.
Im Sonnensystem gab es vielerorts überkuppelte Städte. Die ältesten und berühmtesten befanden sich auf dem Mars. Aber man mußte sich vergegenwärtigen, daß die Schwerkraft dort nur vierzig Prozent der Erdgravitation betrug, und daß über den Venuskuppeln riesige Wassermassen lagerten. Obwohl man darauf geachtet hatte, die Städte in den flachen Gewässerausläufen anzulegen, so daß die Kuppelspitzen bei Ebbe beinahe über den Wasserspiegel ragten, mußte dennoch ein Wasserdruck von mehreren Millionen Tonnen abgestützt werden.
Lucky neigte genau wie die meisten Erdbewohner (und wie die meisten Venusbewohner auch, wenn man es recht betrachtete) dazu, die technischen Errungenschaften auf diesem Gebiet als selbstverständlich anzusehen. Jetzt aber, wo Lou Evans wieder in seinen Arrest zurückgekehrt und die mit seiner Person verknüpften Probleme fürs erste auf die lange Bank geschoben worden waren, stellte Luckys beweglicher Verstand verschiedene Überlegungen an und verlangte begierig nach Informationen über dieses neue Problem.
»Wie wird die Kuppel abgestützt, Dr. Morriss?« fragte er.
Der fette Mann von der Venus hatte sich wieder etwas gefaßt. Das von ihm gelenkte Gyrocar eilte auf den bedrohten Sektor zu. Seine Stimme klang immer noch gepreßt und grimmig.
»Diamagnetische Kraftfelder in Stahlgerüsten«, sagte er. »Es sieht so aus, als ob Stahlträger die Kuppel stützen. Dem ist aber nicht so. Stahl ist einfach nicht stark genug. Die Kraftfelder tun die Arbeit.«
Lucky warf einen Blick nach unten auf die Stadt; die Straßen wimmelten vor Menschen und Betriebsamkeit. »Hat es früher schon einmal Vorfälle dieser Art gegeben?«
»Heiliger Weltraum«, stöhnte Morriss, »nicht so wie dieser hier. Wir sind in fünf Minuten da.«
»Gibt es für solche Fälle Vorkehrungen gegen Katastrophen?« fragte Lucky unbeirrt weiter.
»Natürlich. Wir haben ein Alarmsystem und automatische Feldjustierungen, die so narrensicher sind wie menschenmöglich. Außerdem ist die ganze Stadt in Abschnitten errichtet. Wenn es in einem Kuppelabschnitt nicht klappt, gehen Transitschotte nieder, die noch von Hilfsfeldern unterstützt werden.«
»Dann wird die Stadt also gar nicht vernichtet, selbst wenn es einen Wassereinbruch gibt. Habe ich recht? Weiß die Bevölkerung das auch?«
»Selbstverständlich. Die Leute wissen, daß sie geschützt sind, aber trotzdem, Mann, ein Gutteil der Stadt würde zerstört. Dabei wird es zwangsläufig Tote geben und der Sachschaden wird ungeheure Ausmaße annehmen. Und noch schlimmer ist, daß, wenn man erst einmal eine Person so steuern kann, so etwas zu tun, dann ist der Feind auch in der Lage, jemanden dazu zu bringen, es wieder zu tun.«
Der dritte Passagier im Gyrocar, Bigman, starrte Lucky gebannt an. Der große Erdbewohner war in Gedanken versunken, seine Brauen zu einem intensiven Stirnrunzeln zusammengezogen. Auf einmal grunzte Morriss: »Wir sind da!« Der Wagen verlor schnell an Geschwindigkeit und blieb schlagartig stehen.
*
Bigman sah auf seine Uhr, sie zeigte Zwei Uhr und fünfzehn Minuten, aber das hatte nichts zu sagen. Die Venusnacht betrug achtzehn Stunden, und hier unter der Kuppel gab es weder Tag noch Nacht.
Die künstliche Beleuchtung strahlte hell wie immer. Die Gebäude ragten gut sichtbar empor, wie immer. Wenn die Stadt anders als sonst wirkte, dann lag das am Verhalten der Einwohner. Sie wimmelten aus allen Himmelsrichtungen der Stadt in Richtung Unglücksstelle. Die Nachricht über den Zwischenfall hatte sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda mit rätselhafter Geschwindigkeit verbreitet, und die Menschen strömten von morbider Neugier getrieben, in Scharen herbei, als wollten sie zu einer Show oder Zirkusparade.