Während er sich mühselig dahinschlängelte, fragte sich Bigman, ob er gleich das Dröhnen des Wassers hören oder, ob die hereinströmende See sich irgendwie bemerkbar machen würde, bevor es ihn erreichte. Er hoffte inständig, daß dem nicht so war. Er wollte nicht eine einzige Sekunde der Vorwarnung haben. Falls die Wassermassen einbrachen, wollte er es schnell hinter sich haben.
Er bemerkte, daß die Wand sich zu krümmen begann. Er hielt an, um auf seine Karte zu schauen; der Strahl seiner kleinen Lampe erhellte den Raum ringsherum mit einem kaltschimmernden Schein. Es handelte sich um die zweite vermerkte Krümmung auf der für ihn gezeichneten Karte; ab jetzt würde der Schacht nach oben führen.
Bigman brachte sich in Seitenlage und schaute um die Biegung.
»Bei allen Marswüsten!« murmelte er. Die Muskulatur seiner Oberschenkel schmerzte, als er nun die Knie gegen die Röhrenwände stemmte, um ein Abrutschen in die Tiefe zu verhindern. Zentimeterweise krallte er sich den sanften Anstieg empor.
Morriss hatte die Skizze nach den hyroglyphischen Karten gezeichnet, die man ihm vom städtischen Bauamt von Aphrodite aus über einen Sichttransmitter vorgehalten hatte. Er war den gewundenen bunten Linien gefolgt, und hatte Fragen über die Bezeichnungen und Symbole gestellt.
Bigman kam an eine der Verbundstreben, die diagonal in den Schächten verspannt waren. Die Strebe war ihm willkommen, da er sie greifen und mit den Händen umfassen konnte, um so den Druck von seinen Ellenbogen und Knien zu nehmen. Er stopfte die Karte wieder in den Ärmel und klammerte sich mit der Linken an die Strebe. Mit der rechten Hand drehte er die Lampe so herum, daß ihr Ende eine Seite der Strebe berührte.
Die Energie des eingebauten Mikroreaktors, der normalerweise Elektrizität in die kleine Birne der Taschenlampe speiste und die Energie in kaltes Licht verwandelte, konnte, wenn man sie entsprechend umstellte, ein begrenztes Kraftfeld am entgegengesetzten Ende aufbauen.
Dieses Kraftfeld durchtrennte augenblicklich alles, was aus gewöhnlicher Materie bestand und ihm in die Quere kam. Bigman schaltete um und wußte, daß das eine Ende der Strebe gelöst war.
Er nahm die andere Hand. Er hielt seinen Schneider an das andere Ende der Verspannung. Noch eine Berührung, und weg war sie. Nun hielt er die Strebe in Händen. Bigman nestelte sie mühselig an seinem Körper vorbei, und als sie bei seinen Füßen angekommen war, ließ er sie fallen. Sie geriet ins Rutschen und klapperte den Luftschacht hinab.
Das Wasser kam immer noch nicht. Der keuchende und robbende Bigman war sich dessen vage bewußt. Er gelangte an zwei weitere Streben, es folgte eine weitere Krümmung. Dann wurde der Weg wieder flacher, und zuletzt kam er an eine Gruppe von Stauplatten, genau da, wo sie auf der Karte eingezeichnet waren. Die Strecke, die er zurückgelegt hatte, betrug wahrscheinlich weniger als zweihundert Meter, aber wie lange hatte er dafür gebraucht?
Und das Wasser kam immer noch nicht.
Die Stauplatten, Metall streifen, die abwechselnd an beiden Seiten der Schachtwand herausragten, um den Luftstrom zu verwirbeln, waren sein letzter Orientierungspunkt. Mit einer raschen Bewegung des Lampenendes trennte er die Streifen einen nach dem anderen ab, und jetzt mußte er genau zwei Meter und siebzig von dem letzten Streifen an gerechnet abmessen, dazu benutzte er wieder seine Lampe. Sie war genau zehn Zentimeter lang, er brauchte sie also bloß siebenundzwanzig Mal aneinanderzulegen.
Zweimal glitt sie ihm aus den Händen, und zweimal mußte er bis zu der schwach eingeritzten Markierung, welche die Stelle zeigte, an der sich zuvor der letzte Stauplattenstreifen befunden hatte, zurückkrabbeln. Er rutschte dabei auf allen Vieren und fluchte leise vor sich in: »Bei allen Wüsten des Mars!«
Beim dritten Anlauf kam er mit dem siebenundzwanzigmaligen Umlegen genau hin. Er hielt einen Daumen auf die Stelle. Morriss hatte ihm gesagt, daß der entsprechende Punkt beinahe direkt über seinem Kopf sein würde. Bigman schaltete seine Lampe ein und fuhr mit dem Finger die gewölbte Innenseite des Schachtes entlang, dazu mußte er sich auf den Rücken legen.
Er nahm wieder den Schneideknauf und hielt ihn, so gut er das in der Dunkelheit abschätzen konnte, einen halben Zentimeter von der eigentlichen Berührungsstelle (das Kraftfeld sollte nicht zu weit hindurchschneiden). Er führte eine Kreisbewegung aus. Ein herausgetrenntes Metallstück fiel ihm entgegen, er schob es zur Seite.
Er richtete die Lampe auf die freigelegte Verkabelung und schaute sich die Sache genau an. Ein paar Zentimeter weiter befand sich das Innere eines Raumes, der keine dreißig Meter von dem Mann an der Schleuse entfernt war. Saß er immer noch da? Offensichtlich hatte er den Hebel noch nicht betätigt (worauf wartete er eigentlich), oder Bigman hätte bereits ganz schön unter Wasser gestanden, wäre mausetot. War er etwa irgendwie gestoppt worden? Befand er sich vielleicht schon in Gewahrsam?
Ein saures Lächeln breitete sich auf Bigmans Gesicht aus, er dachte daran, daß er sich möglicherweise ganz umsonst durch das Innere eines Metallwurms gewunden hatte.
Er folgte den Drähten. Hier sollte doch irgendwo ein Relais sein. Sachte zupfte er an den Drähten, erst an einem, dann an einem zweiten. Einer bewegte sich, und eine kleine schwarze, sichelförmige Verschalung wurde sichtbar. Bigman stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er klemmte die Stablampe zwischen die Zähne, so hatte er beide Hände frei.
Behutsam, sehr behutsam bog er die beiden Hälften der Verschalung in entgegengesetzte Richtungen. Die Magnoklammer gab nach, die beiden Hälften gingen auseinander und gaben den Inhalt frei. Dieser bestand aus einem Unterbrecherrelais: zwei glitzernde Kontaktenden; das eine war in seinen Feldkollektor eingeschlossen und von dem anderen nur durch einen kaum wahrnehmbaren Abstand getrennt. Wurde der richtige Impuls ausgelöst, wie zum Beispiel das Umlegen eines kleinen Hebels, würde der Feldkollektor die nötige Spannung aufbauen, die dann ihrerseits den anderen Kontakt herunterziehen würde, Strom am Kontaktpunkt vorbeischicken und so eine der Schleusen in der Kuppel öffnen. Das Ganze würde sich im millionsten Bruchteil einer Sekunde abspielen.
Bigman schwitzte und erwartete halbwegs, daß der letzte Moment jetzt, jetzt kommen würde, wo er seine Aufgabe fast ausgeführt hatte. Er fummelte in seiner Westentasche und holte ein Stück Isolierplastik hervor. Durch die Körperwärme war es bereits weich geworden. Er knetete die Masse einen Augenblick und plazierte sie vorsichtig an dem Punkt, an dem die beiden Kontakte sich fast berührten. Er hielt solange fest, bis er bis drei gezählt hatte, dann nahm er sie wieder ab.
Jetzt konnten die Kontakte ruhig schließen, dazwischen befand sich nunmehr ein dünner Film dieser Plastikmasse, durch den der Strom nicht fließen konnte.
Der Hebel durfte jetzt umgelegt werden: die Schleuse würde sich nicht öffnen.
Lachend krabbelte Bigman zurück, bahnte sich einen Weg an den Überbleibseln der Prallplatten vorbei, kam an den Streben die er abgetrennt hatte vorbei, schlitterte die Gefällestücke hinab.
*
In dem Wirrwarr, der jetzt die ganze Stadt beherrschte, suchte Bigman verzweifelt nach Lucky. Der Mann an dem Hebel befand sich in Gewahrsam, die Transitsperre war aufgehoben worden und die Bevölkerung flutete in ihre Behausungen zurück, die sie aufgegeben hatte. (Die meisten waren wütend darüber, daß die Stadtverwaltung es überhaupt zugelassen hatte, daß dies alles passieren konnte.) Für diejenigen, die auf die Katastrophe gewartet hatten, war die Beseitigung der Furcht das Startsignal für ein ausgelassenes Volksfest.
Am Schluß erschien Morriss aus dem Nichts und legte eine Hand auf Bigmans Ärmel. »Lucky ruft nach Ihnen.«
Überrascht sagte Bigman: »Von wo?«