Das Sendegerät schien hundert Meter entfernt zu sein, es sah verschwommen aus und war von blutrotem Nebel umgeben. Das Hämmern in Luckys Kopf nahm bei jedem Schritt zu.
Er bemühte sich den Schmerz einfach zu ignorieren und nur den Sender anzusehen, nur an den Sender zu denken. Er zwang seine Beine, sich zu bewegen. Sie wurden von einem gummiartigen Widerstand behindert, der sie umwob und ihn zu Boden zog.
Schließlich streckte er einen Arm aus, und als seine Finger gerade noch zehn Zentimeter vom Sucherkopf entfernt waren, wußte Lucky, daß sein Widerstandswille erschöpft war. Er konnte sich noch so sehr anstrengen, er war außerstande, seinen Körper noch näher an den Sender heranzubringen. Es war vorbei. Es war zu Ende.
*
Die Hilda bot einen Anblick der Lähmung. Evans lag bewußtlos auf seiner Koje; Bigman war auf dem Deck zusammengesackt, und obgleich Lucky sich störrisch auf den Beinen hielt, war das einzige Lebenszeichen, das von ihm ausging, seine zitternden Fingerspitzen.
Die kalte Stimme in Luckys Kopf sprach wieder in ihrer gleichförmigen, monotonen Art: »Du bist hilflos, aber im Gegensatz zu deinen Begleitern wirst du das Bewußtsein nicht verlieren. Du wirst diesen Schmerz so lange aushalten müssen, bis du dich entschließt, das Schiff tauchen zu lassen, uns sagst, was wir zu wissen wünschen und dein Leben beendest. Wir haben viel Zeit. Du hast keine Chance, uns zu widerstehen. Du kannst nicht gegen uns kämpfen. Es gibt nichts, womit du uns bestechen könntest, nichts, womit du uns bedrohen könntest!«
Durch die nicht enden wollende Folter hindurch, fühlte Lucky eine Regung in seinem unbeweglichen, schmerzdurchtränkten Gehirn - dort tat sich etwas.
Keine Bestechung? Keine Drohung?
Keine Bestechung?
Selbst angesichts des halbbewußtlosen Zustandes, in dem er sich befand, entzündete sich der Funke in seinem Geist.
Den Sender gab er auf, wandte seine Gedanken davon ab, und im selben Augenblick hob sich der Schmerzvorhang ein wenig. Lucky machte einen torkelnden Schritt vom Sendegerät weg, und der Vorhang lüftete sich noch ein bißchen. Er wandte sich völlig ab.
Lucky bemühte sich, nicht zu denken. Er versuchte automatisch und ohne Vorbedacht zu handeln. Sie konzentrierten sich darauf, ihn nicht an den Sender zu lassen. Sie durften sich der anderen Gefahr, der sie ausgesetzt waren, nicht bewußt werden. Der erbarmungslose Feind durfte seine Absichten nicht ableiten und ihn an der Ausführung hindern. Er würde schnell machen müssen. Sie durften ihn nicht aufhalten.
Sie durften es einfach nicht!
Er war an den Apothekenschrank gelangt und riß die Türchen auf. Klar erkennen konnte er nichts und Lucky verlor wertvolle Sekunden mit Herumnesteln.
Die Stimme sagte: »Wie lautet deine Entscheidung?« und der brüllende Schmerz begann sich wieder auf das junge Ratsmitglied zu senken.
Lucky hatte gefunden, was er gesucht hatte - es handelte sich um ein klobiges Glas mit bläulichem Silikon. Seine Finger wühlten sich durch etwas, das sich wie Lagen abschirmender Watte anfühlte, und suchten nach dem kleinen Haken, der das paramagnetische Mikrofeld, das den Deckel des Glases festhielt und es luftdicht abschloß.
Die kleine Unebenheit spürte er kaum, als er mit einem Fingernagel den Haken zu fassen bekam. Er konnte kaum sehen, wie der Deckel sich in eine Richtung drehte und herunterfiel. Nur undeutlich nahm er wahr, wie er mit dem typischen Geräusch, das Metastik auf Metall erzeugt, auf den Boden fiel. Verschwommen konnte er erkennen, daß das Glas offen war und wie durch einen Schleier hob er den Arm in Richtung Müllschlucker.
Der Schmerz war mit voller Gewalt zurückgekehrt.
Sein linker Arm hatte die Klappe des Müllschluckers angehoben; seine rechte Hand kam zitternd mit dem kostbaren Glas bis vor den zehn Zentimeter breiten Schlitz.
Sein Arm bewegte sich eine Ewigkeit lang. Sehen konnte er nichts mehr. Ein roter Dunst überdeckte alles.
Er merkte, wie sein Arm mit dem Glas in der Hand gegen die Wand traf. Er drückte, aber es ging nicht weiter vorwärts. Die Finger an seiner linken Hand krochen von dort, wo sie die Öffnung des Müllschluckers festgehalten hatten, herunter und berührten das Glas.
Es jetzt noch fallen zulassen, wagte er nicht. Falls das geschehen würde, würde er im Leben nicht mehr die Kraft finden, es noch einmal aufzuheben.
Er hielt es mit beiden Händen umklammert, und beide Hände zogen mit vereinten Kräften daran. Langsam kam es nach oben, während Lucky dem Abgrund der Bewußtlosigkeit immer näher schwebte.
Und dann war das Glas verschwunden!
Eine Million Meilen entfernt, so schien es, konnte er das Pfeifen der Druckluft hören, und er wußte, daß das Glas in den warmen Venusozean gespuckt worden war.
Einen Augenblick lang schwankte der Schmerz, und dann, mit einem einzigen großen Schlag, war er wie weggeblasen.
Lucky richtete sich vorsichtig auf und trat von der Wand zurück. Gesicht und Körper waren in Schweiß gebadet und in seinem Kopf drehte sich noch alles.
So schnell es seine immer noch unsicheren Beine zuließen, trat er an die Sendeanlage, und diesmal konnte ihn nichts aufhalten.
*
Evans saß, den Kopf in den Armen vergraben, auf einem Stuhl. Er trank in großen Schlucken Wasser und sagte immer wieder: »Ich kann mich an nichts erinnern. Ich kann mich an nichts erinnern.«
Mit freiem Oberkörper wischte sich Bigman mit einem feuchten Lappen über Brust und Kopf, und ein unsicheres Lächeln trat auf sein Gesicht. »Ich schon. Ich kann mich an alles erinnern. Erst stand ich da und hörte, wie du dich mit der Stimme unterhalten hast, Lucky, und im nächsten Augenblick lag ich ohne Vorwarnung auf dem Boden. Ich konnte nichts fühlen, konnte meinen Kopf nicht bewegen, ich konnte noch nicht einmal blinzeln, aber ich konnte alles rings um mich herum hören. Ich konnte die Stimme hören, und auch was du gesagt hast, Lucky. Ich habe gesehen, wie du auf den Sender...«
Er atmete vernehmlich aus und schüttelte den Kopf.
»Beim ersten Mal habe ich es nicht geschafft, weißt du«, sagte Lucky still.
»Das konnte ich nicht erkennen, du bist aus meinem Blickfeld gegangen, und mir blieb nichts weiter übrig als dazuliegen und zu warten, bis ich dich senden hören konnte. Nichts geschah, und ich dachte die ganze Zeit, daß sie dich jetzt auch erwischt hätten. In Gedanken konnte ich uns alle drei als atmende Leichen sehen. Es war alles gelaufen, und ich konnte nicht einmal mit dem Daumennagel schnippen. Alles, wozu ich imstande war, war Luft zu holen. Dann kamst du wieder an meinen Augen vorbei, und ich wollte gleichzeitig lachen, weinen und laut losbrüllen, aber alles was ich konnte, war still daliegen. Ich konnte dich undeutlich erkennen, Lucky, wie du dich an der Wand festgeklammert hast. Ich hatte keinen Schimmer, was in Venus Namen du da getan hast, aber ein paar Minuten später war der Spuk vorbei. Junge, Junge!«
Müde sagte Evans: »Und wir nehmen jetzt auch wirklich Kurs auf Aphrodite, Lucky, ist ein Irrtum ausgeschlossen?«
»Wir sind auf Kurs, es sei denn, die Instrumente schwindeln, aber das glaube ich nicht«, erwiderte Lucky. »Wenn wir zurück sind, und die Zeit dafür erübrigen können, werden wir uns alle kurz in medizinische Behandlung begeben.«
»Schlafen!« stellte Bigman klar. »Mehr will ich nicht. Zwei Tage durchschlafen, mehr will ich gar nicht.«
»Das sollst du auch haben«, versicherte Lucky.
Mehr als den beiden anderen war Evans das Erlebnis unter die Haut gegangen. Das konnte man ziemlich deutlich daran erkennen, wie er sich hinter den eigenen Armen versteckte und wie er auf dem Stuhl hockte, ja beinahe ängstlich kauerte. »Stellen sie denn überhaupt nichts mehr mit uns an?« Auf dem Wort sie lag eine leichte Betonung.
»Das kann ich nicht garantieren«, sagte Lucky, »aber der schlimmste Teil der Angelegenheit ist in gewisser Weise überstanden. Ich habe die Raumstation erreicht.«