Die Piraten hatten schon einmal den Fehler begangen, ein Ratsmitglied zu töten. Die Wut darüber hatte sich anschließend für sie als fatal erwiesen. Diesmal würden sie vorsichtiger zu Werke gehen.
Sie werden die Shooting Starr stürmen, dachte Lucky bei sich, und einen Störschirm rings um das Schiff errichten, um Bigman am Absetzen eines Hilferufes zu hindern. Dann konnten sie eine Flakgranate in den Rumpf jagen. Das würde eine gute Imitation eines Meteoriteneinschlages abgeben. Um das Ganze noch echter aussehen zu lassen, konnten sie ihre eigenen Ingenieure an Bord schicken, und sie ein bißchen an den Schutzschildaktivatoren herumfummeln lassen. Dadurch würde es so aussehen, als ob ein mechanischer Defekt dafür verantwortlich gewesen wäre, daß der Schild sich nicht aufgebaut hatte, als der Meteorit auftauchte.
Seine Flugbahn durch den Weltraum würden sie genau kennen, das wußte Lucky mit Bestimmtheit. Es gab nichts, was ihn von seinem ursprünglichen Abschußwinkel ablenken könnte. War er erst mal mit Sicherheit tot, dann würden sie ihn einsammeln und in eine Kreisbahn um die zertrümmerte Shooting Starr schicken. Der Suchexpedition (und vielleicht war es sogar eines der Piratenschiffe, das einen anonymen Bericht über den Fund senden würde) würde sich nur eine Schlußfolgerung aufdrängen. Bigman, im Kommandostand bis zum letzten Augenblick steuernd, war auf seinem Posten gestorben. Lucky hingegen hatte sich in seinen Raumanzug gezwängt und dabei in der Aufregung den Sensorknopf seines Senders beschädigt. Deswegen hatte er nicht um Hilfe rufen können. Den Gasvorrat seiner Stoßpistole hätte er in einem verzweifelten und sinnlosen Versuch, an einen sicheren Ort zu gelangen, verbraucht. Und dann war er gestorben.
Aber so lief die Sache nicht. Weder Conway noch Henree würden auch nur einen Moment lang annehmen, daß Lucky nur an sein eigenes Überleben gedacht hatte, während Bigman treu bei den Steuereinrichtungen geblieben war. Für einen toten Lucky Starr bedeutete es aber einen schwachen Trost zu wissen, daß der Plan zum Scheitern verurteilt war. Schlimmer noch, nicht nur Lucky Starr würde sterben, sondern die Informationen in seinem Kopf wären auf ewig verloren.
Einen Augenblick lang machte ihn der Zorn auf sich selbst ganz krank; er hätte vor seinem Weggang alle seine Vermutungen an Conway und Henree weitergeben müssen und außerdem hätte er mit dem Abfassen der Privatkapsel nicht warten dürfen, bis er an Bord der Shooting Starr gegangen war. Doch dann bekam er sich wieder in die Gewalt. Ohne Fakten hätte ihm doch niemand geglaubt.
Schon allein aus diesem Grund mußte er machen, daß er zurückkam.
Er mußte es einfach schaffen!
Aber wie sollte er das anstellen? Was nützt schon »ich muß einfach«, wenn man allein und hilflos im All treibt und nichts weiter besitzt als einen Sauerstoffvorrat von wenigen Stunden?
Sauerstoff!
Da ist mein Sauerstoff, dachte er. Jeder außer Dingo hätte die Sauerstofflasche bis auf einen winzigen Rest geleert, damit der Tod schnell eintrat. Aber wie Lucky Dingo kannte, hatte der den Zylinder randvoll gepumpt, einfach nur um die Qual zu verlängern.
Ausgezeichnet! Er würde das ins Gegenteil kehren.
Er würde den Sauerstoff zu etwas anderem verwenden. Falls es nicht klappte, würde der Tod trotz Dingo nur um so früher eintreten.
Aber es mußte klappen.
Während er durch den Weltraum wirbelte, war der Asteroid von Zeit zu Zeit in seinem Gesichtskreis aufgetaucht. Anfangs sah er wie ein schrumpfender Felsen aus, dessen sonnenbeschienen Höhenzüge sich zackig über die Schwärze des Weltraums krümmten. Dann war er zu einem hellen Stern mit punktförmiger Lichtquelle geworden. Der strahlende Glanz verflüchtigte sich jetzt sehr schnell. Wenn der Asteroid erst einmal so blaß geworden war, daß er nur noch wie irgendeiner der unzähligen Sterne aussah, war alles vorbei. Bis das geschah, würden nur noch wenige Minuten vergehen.
Seine unbeholfenen metallumhüllten Finger nestelten bereits an der beweglichen Schlauchverbindung, die vom Lufteinlaß knapp unterhalb der Sichtscheibe zu dem Vorratsbehälter auf seinen Rücken führte. Er drehte angestrengt an dem Zapfen, der den Luftschlauch fest mit dem Zylinder verband.
Der Zapfen gab nach. Er wartete, bis sein Helm und der Raumanzug sich mit Luft gefüllt hatten. Normalerweise sickerte der Sauerstoff langsam aus dem Zylinder, ungefähr in der Menge, in der er von den Lungen verbraucht wurde. Das Kohlendioxyd und die Wasserrückstände, die infolge des Atmungsprozesses anfielen, wurden in der Hauptsache von den Chemikalien, die sich in dem mit Ventilen versehenen Kanister, der auf der Innenseite der Brustplatte des Anzuges befestigt war, absorbiert. Das Ergebnis war, daß der Sauerstoff auf einem Druckniveau gehalten wurde, das einem Fünftel der Erdatmosphäre entsprach. Das war genau richtig, denn die Luftzusammensetzung der Erde enthielt sowieso vier Fünftel Kohlendioxyd, das zum Atmen überflüssig war.
Für eine höhere Konzentration bestand jedoch Spielraum genug, man könnte den normalen Atmosphärendruck etwas überschreiten, ohne daß sich die Gefahr einer Sauerstoff Vergiftung ergab. Lucky ließ den Sauerstoff in den Anzug strömen.
Nachdem das geschehen war, schloß er das Ventil unter der Sichtscheibe völlig und nahm den Zylinder ab.
Der Zylinder war selbst eine Art Stoßpistole. Sicher, es handelte sich dabei um eine ungewöhnliche Stoßpistole. Jemand, den es ins All verschlagen hatte und der den kostbaren Sauerstoff, der zwischen ihm und dem Tod stand, ins All blies, beging eine reine Verzweiflungstat. Oder er handelte dabei mit einer bestimmten Absicht.
Lucky knackte das Druckverminderungsventil und ließ einen Sauerstoffschwall entweichen. Diesmal zeichnete sich keine Kristallspur ab. Im Gegensatz zu Kohlendioxyd gefror Sauerstoff nun wirklich erst bei extrem niedrigen Temperaturen, und ehe es ausreichend Wärme abgegeben hatte, um zu gefrieren, hatte es sich bereits im All verteilt. Gasförmig oder von fester Konsistenz, Newtons drittes Bewegungsgesetz blieb trotzdem wirksam. Während das Gas in die eine Richtung drückte, wurde Lucky durch eine natürliche Gegenbewegung in die entgegengesetzte Richtung getrieben.
Sein sich Drehen um die eigene Achse wurde geringer. Er paßte sorgfältig den Augenblick ab, bis er den Asteroiden voll voraus hatte, bevor er das Trudeln völlig beendete.
Er trieb immer noch vom Brocken weg. Der war jetzt auch nicht mehr wesentlich heller als die ihn umsäumenden Sterne. Möglicherweise hatte er sich bei der Wahl seines Zieles geirrt, aber daran wollte er jetzt nicht denken.
Er konzentrierte sich vollständig auf den Lichtpunkt, den er für den Asteroiden hielt, und ließ den Sauerstoff aus dem Zylinder in die entgegengesetzte Richtung schießen. Würde der Vorrat ausreichen, um seine Fahrtrichtung noch einmal ändern zu können? Im Augenblick ließ sich das nicht sagen.
Egal, er würde für alle Fälle eine gewisse Menge Gas einbehalten müssen. Er würde es benötigen, um in der Nähe des Asteroiden manövrieren zu können, um auf die Schattenseite zu kommen, Bigman und das Schiff zu finden, daß hieß.
Das hieß, falls die Piraten das Schiff noch nicht in die Flucht geschlagen oder gar vernichtet hatten.
Lucky kam es so vor, als ob das Zittern in seinen Händen durch den ausströmenden Sauerstoff schwächer wurde. Entweder war der Zylinder gleich leer, oder aber die Gastemperatur sank ab. Er hielt ihn so nahe wie möglich an seinen Körper gepreßt, so daß er dadurch etwas Wärme bezog. In der Regel war es die Temperatur des Raumanzuges, die die Sauerstoffzylinder so weit aufwärmte, daß ihr Inhalt atembar wurde, und die Kohlendioxydbehälter für die Stoßpistolen wurden mit ausreichend Wärme versorgt, um den Inhalt in einem flüssigen Zustand zu halten. Im Vakuum des Weltraumes konnte Wärme nur durch Abstrahlung verlorengehen, dabei handelte es sich in jedem Fall um einen langsam ablaufenden Prozeß, aber der Sauerstoffbehälter hatte inzwischen genügend Zeit gehabt, mit der Temperatur herunterzugehen.