Valera fand den Wohnheimleiter, stellte sich vor und erzählte, dass man ihm hierher aus Erfurt schickte. Alles auf Deutsch, seine Rede bereitete er im Taxi vor. Doch gutes Deutsch beeindruckte den Wohnheimleiter überhaupt nicht, eher irritierte ihn. Er antwortete im hervorragenden Russisch. Valera merkte es später, dass der Wohnheimleiter mochte es nicht, wenn man ihn auf Deutsch ansprach, als ob wollte er nicht, dass man Deutsch lernte.
Valera wurde zu seiner Bleibe hingebracht. Es war ein kleines – ungefähr 6 m² – langes Zimmer, in dem ein Bett, ein Tischchen, ein Stuhl und ein kleiner alter Kühlschrank (auf einem Schrotthaufen gefunden, zugab der Wohnheimleiter) standen. Mit dem Geschick konnte Valera bald durch das Zimmer laufen – es gab 15 cm Durchgang zwischen dem Bett und der Wand. Valera war so erschöpft, dass er gleich dieses Bett benutzte und schlief ungefähr zwei Stunden, als er von einem herzzerreißenden Schrei aufgeweckt wurde. Ein Kind schrie ums Leben. Valera lief halsbrecherisch, um das Leben des Kindes zu retten, und begegnete einem kleinen Mädchen, das in der Mitte der Küche stand und schrie. Aus dem Konzept gebracht fragte Valera, warum und wieso es schrie. Das Mädchen antwortete, dass es ihm gerade danach ist. Weitere Fragen konnte Valera nicht stellen, weil aus dem Zimmer der Nachbarn kam eine kleine kugelförmige Frau, die, die Arme in die Hüfte stemmend, ihn mit strenger kaukasischer Aussprache fragte, was er von ihrer armen Tochter wollte. Valera fragte die Mutter, warum ihre Tochter schrie. Die Frau antwortete, dass sie, als aserbaidschanische Flüchtlinge, die so viele Grausamkeiten von Armenier erlebten, Recht haben, vom Schreck von Zeit zu Zeit zu schreien. Interessanterweise erzählte sie Valera am nächsten Tag, dass sie, als armenische Flüchtlinge, die so viele Grausamkeiten von Aserbaidschaner erlebten, haben Recht, vom Schreck von Zeit zu Zeit zu schreien. Valera verstand es nie, wer sie eigentlich waren – die Familie wechselte ihre Nationalität wie das Hemd. So lernte Valera diese seltsamen Menschen kennen.
Die Familie bestand aus vier Mitgliedern – einem korpulenten Mann, die obenerwähnte kugelförmige Frau und zwei wohlbeleibten Töchter, die hiesige Schule besuchten. Die Hauptbeschäftigung der Familie war essen – sie machten das fast ununterbrochen. Die Frau schuftete in der Küche wie eine Sklavin. Wenn sie nicht aßen, dann schliefen sie. Die kleinen Pausen, während deren sie nicht gründlich aßen und nicht tief schliefen, widmeten sie den Sonnenblumenkernen, die sie tonnenweise aßen und spuckten die Schalen auf den Boden hinaus. XXXX XXXXX XXXX XXX XXXX XXXX XX.
Am dritten Tag Valeras neues Leben in Deutschland kam die kugelförmige Frau zu ihm und sagte, dass sie im viertem Monat schwanger war und dass das Zimmer, in dem Valera momentan wohnt, für ihre Familie vorgesehenen war und dass Valera sollte sich keine Illusionen bauten, sie würden ihn aus dieses Zimmer vertreiben. Valera antwortete, dass er dieses Zimmer nicht wählte und dass es eher das Bier des Wohnheimleiters war, Zimmer zu verteilen. Die kugelförmige Frau lächelte unheimlich und erwiderte, dass es ihm bald leidtun würde, dass er in diesem Zimmer wohnt.
Inzwischen wurde Valera zum Deutschkurs angemeldet. Es war nicht von Bedeutung, dass er schon Deutsch gut konnte und die andere mit dem Alphabet noch nicht Bekanntschaft machten – deutsche Vorkenntnisse wurden nicht vorgesehenen. Valera langweilte sich ungeheuerlich, schrieb Limericks auf Deutsch, aber die Langeweile war nicht sein größtes Problem, sondern ein chronischer Schlafmangel. Dieser Schlafmangel wurde von kaukasischer Familie ohne Nationalität verursacht.
Diese Menschen standen sehr früh auf, ungefähr um fünf Uhr morgens, um ersten Frühstück vorzubereiten und zu essen. Dann gingen Kinder in die Schule und die Eltern schliefen wieder ein. Um elf Uhr standen sie wieder auf, aßen, was vom Frühstück übrig blieb und bereitete Mittagessen vor. Die Kinder kamen zurück, sie aßen Mittagessen zusammen und schliefen erneut ein. Um neunzehn Uhr standen sie wieder auf, um Abendessen vorzubereiten. Sie aßen und klatschen danach etwas mit Nachbarn, um zwölf Uhr nahmen sie noch ein Häppchen zu sich, um die Nacht überzustehen, und schliefen wieder ein. Das war für Valera kein Problem, weil er auch am Tage sich ausschlafen konnte – bis der Deutschkurs begann.
Schon am ersten Tag fand Valera, dass man alle Wände im Wohnheim aus Pappe machte, wahrscheinlich, um Kosten zu reduzieren. Als Resultat konnte man das leiseste Rascheln in ganzem Block wahrnehmen, inklusive Geräusche aus Klo. Was die Toilette betraf, so sah Valera die von solcher Art nur in seiner Kindheit im Pionierlager, nämlich mit verkürzten Türen, um einem sehen zu erleichtern, wer da drin saß. Aber sogar im Pionierlager mischte man Frauen- und Männertoiletten miteinander nicht. Im Wohnheim dagegen, ungeachtet davon, dass man großzügig vier von denen baute, konnte man die Geschlechtszugehörigkeit der Toiletten nicht erkennen, was eigentlich für Menschen aus ehemaliger UdSSR nicht so gewöhnlich war. Vielleicht war es als erste Freiheitsübung für sie gedacht...
Wie dem auch sei, Valera wurde mit seinen Nachbarn aufzustehen gezwungen, weil sie miteinander wie die Schäfer sprachen, die auf verschiedenen Berggipfel standen. Dazu hatten sie Gewohnheit, immer wieder die Türen sehr laut zuzuwerfen. Valera versuchte sich von diesen Geräuschen abzuschirmen, indem er ein Radio kaufte und das laufen ließ. Aber die Nachbarn klagten beim Wohnheimleiter, dass das Radio störte sie. Der Wohnheimleiter erklärte Valera, dass er laut Gesetz nur so laut Radio hören darf, damit seine Nachbarn keinen Mucks von dem Radio hören könnten. Valera konterte, dass Nachbarn oft in der Nacht stritten, und zwar sehr laut. Ihm wurde geantwortet, dass ein Ehepaar laut Gesetz in der Nacht bis zu dreißig Minuten laut streiten darf. Valera sagte, dass sie immer wieder die Türen sehr laut zuwarfen. Der Wohnheimleiter antwortete, dass Valera zu kleinkariert war und vielleicht nicht richtig schlaffen wollte.
Da verstand Valera endlich, was die kugelförmige Frau (die er für sich in Weibchen und ihren Mann in Männchen umbenannt) meinte. Er konnte täglich nicht mehr als vier Stunden schlafen. Sehr bald sah er als ein Zombie aus.
Als Deutschkurs begann, irritierte er die Lehrerin mit seiner grammatischen Fragen, die weit über das geplante Programm lagen, aber besonders ärgerte sie die Frage, ob man die Leute mit verschiedenen Muttersprachen mit nur einem Lehrbuch lehren konnte, als auch die Frage, wie konnte man entscheiden, dass das schwierigste Problem für die zwei größten Teilen der Migranten in Deutschland – Türken und Russen – Genitiv wäre, wenn beide diese Sprachen sehr gut entwickelten Genitiv haben? Das wäre ein Problem für Chinesen oder Vietnamesen, die in ihren Sprachen gar keine Deklination haben.
Diese Zeiten, zum Glück der Lehrerin, waren schon längst vorbei. Jetzt saß Valera stumm im Halbtraum und konzentrierte seine gesamten Kräfte, um nicht einzuschlafen. Er fühlte, dass er an der Grenze der Psychose stand. Ihm konnte nur Wunder helfen. Valera besuchte regelmäßig den Wohnheimleiter mit einer einzigen Bitte, ihm ein anderes Zimmer zur Verfügung zu stellen, weil er wusste, dass es leere Zimmer gab. Der Wohnheimleiter antwortete immer wieder, dass es keine Möglichkeit gäbe, anderes Zimmer zur Verfügung zu stellen. Es schien, dass es ihm gefiel, Valeras ständig verschlechterten Gesundheitszustand zu beobachten. Also kam das Wunder nicht von dieser Seite, aber von Seite des Weibchens, das zwei Zwillingstöchter gebar. Der Wohnheimleiter wurde gezwungen, etwas zu unternehmen. Valera bekam ein neues, noch kleineres Zimmer, aber weit, weit weg vor Männchen und Weibchen und war grenzenlos glücklich. Die Letztere okkupierte Valeras frühere Bleibe, waren aber damit nicht glücklich und begannen gleich einen neuen Krieg gegen anderen Nachbarn, um ein anderes Zimmer, aber Valera interessierte sich nicht mehr dafür.
Nach dem Deutschkurs versuchte Valera sein Glück mit der Otto Benecke Stiftung. Er wusste, dass diese Stiftung ausländische Akademiker unterstützte. Doch die Stiftung teilte ihm mit, dass er zu alt für sie war. Das wunderte Valera. Er war erst fünfzig und musste noch mindestens fünfzehn Jahre arbeiten. Eine seine Bekannte, die neunundvierzig war, bekam eine Einladung von Otto Benecke. Spielte ein Jahr so 'ne große Rolle? XXX XX XXXXX XXXXX XXXXXXXXXX XXXXX XXXXXX XXXX XXXXX XXX XX.