Tomek kam nach Israel am Donnerstag. Sie wusste, dass am nächsten Tag Schabbat sein sollte und alle Läden geschlossen werden, so bat sie Wowa, sie zu einem Supermarkt zu kutschieren. Dort kaufte sie überwiegend Früchte, die alle für sie exotisch und verlockend aussahen. Am Freitag erfuhr sie, dass ihre Ängste umsonst waren – alle Läden, die „Russen“ gehörten, waren am Schabbat geöffnet, genauso wie Cafés und Kneipen. XXXX XX XX XXXX XXXXX XXXXX.
Die Stadt erwachte zum Leben um einundzwanzig Uhr. Es wurde angenehm kühl und alle liefen draußen oder saßen in unzähligen Cafés. Es war erstaunlich, dass kleine Kinder bis Mitternacht wach blieben und dass es niemanden störte. Tomek war überrascht und bezaubert von Ungezwungenheit der Israeliten (sie fragte sich, wann sie eigentlich schlafen, weil es keine Siesta in Israel gibt). Sie saß in einem Café und trank Wein (sie schätzte israelische Weine, doch kein Bier). Ein Kind in weißem Kleid lief neben ihr, dann plötzlich lag es sich auf den Boden hin. Die neben sitzende Mutter hatte nichts dagegen. Tomek versuchte die Mutter aufmerksam zu machen, dass Kind in weißem Kleid auf dem Boden lag. In Russland wäre es eine Tragödie. Die israelische Mutter sagte aber Na und? Es liegt halt! Wennschon, dennschon!
Die meisten Menschen waren gut gelaunt, lachten laut und scherzten. Tomek fragte sich, wie es nur möglich sein könnte. Sie ging durch die Allenby Straße in Tel-Aviv spazieren, neben dem Club, wo vor vier Tagen ein Selbstmordattentat passierte. Der Club war schon renoviert und da drinnen waren Leute, die tanzten und lachten. Wie konnten sie das? Einmal ließ Tomek ihre Tasche auf der Bank liegen und machte zwei Schritte weg. Gleich kamen zwei Polizisten und fragten, wem die Tasche gehört. Sie erteilten ihr einen Verweis, dass man keine Tasche ohne Beaufsichtigung lassen durfte. Die Bevölkerung war immer bereit zu Selbstmordattentaten, Raketenangriffen, Tod. Vielleicht waren Menschen hier schon seit vielen Jahren zu müde, um so was zu befürchten.
Tomek nahm an einer Exkursion nach Totem Meer teil. Unterwegs besichtigten sie auch andere Sehenswürdigkeiten. Sie lief durch Via Dolorosa, stand unter Klagemauer und kam endlich nach Kumran. Tomek frappierte den Unterschied zwischen arabischen und israelischen Siedlungen. Manchmal lagen zwischen ihnen nur hunderte Meter, aber es sah so aus, als ob es nicht nur Meter, sondern Jahrhunderte waren.
Die Buchmesse fand an dem Unigelände statt. Zu Besonderheiten der Messe gehörte die Möglichkeit dort gleich Bücher zu verkaufen und Wowa nutzte diese Gelegenheit. Es gab viele russischsprachige Studenten an der Tel-Aviver Uni, die mit Vergnügen Lehrbücher auf Russisch kauften, die darüber hinaus noch zwanzig oder sogar fünfzig Mal billiger als Bücher auf Englisch waren. Wowa war mit seinen kommerziellen Ergebnissen so zufrieden, dass er für Tomek die Abschiedsparty zu organisieren versprach.
Tomek lernte die Kuratorin der Messe kennen – Belinda, die aus Süd Afrika nach Israel immigrierte. Sie verstanden sich gleich gut. Eines Abends lud Belinda Tomek und noch einen englischen Verleger in ein Restaurant ein. Sie besprachen die Besonderheiten des Buchherausgebens in ihren Ländern. Der Abend würde für Tomek ganz angenehm, hätte der Engländer nicht so stark gestottert, dass es fast unmöglich war, ihn zu verstehen. Beide Damen sprachen dagegen sehr schnell und sie versuchten immer die Sätze von Engländer für ihn im Voraus zu beenden. Zuerst ärgerte es ihn, dann fand er es lustig und der Abend wurde gerettet. Als sie aus das Restaurant zurückkamen, fragte Belinda Tomek, ob sie nach Israel aussiedeln wollte. Tomek antwortete, dass sie noch nie daran dachte, aber das Land gefiel ihr. Sie fügte hinzu, dass besonders gefiel ihr Herzlia-Pituach. Belinda lachte und sagte, dass ihr die Stadt auch gefiel, doch sie würden dort nie wohnen, weil das billigste Haus dort über eine Million Dollar kostet. Die beide tauschte ihre Visitenkarten aus und versprachen einander im Kontakt zu bleiben.
Wowa sagte, dass er neben großem Cañon wohnte und Tomek erwartete eine gewaltige Schlucht zu Gesicht zu bekommen. Als sie keine sah, fragte sie Wowa, wo diese sich befand. Wowa lachte und wies auf ein großes Gebäude hin. Man nennt ein Supermarkt in Israel Cañon. Außer verschiedenen Läden gibt es dort noch Cafés, Restaurants und Kinos. Zuerst waren sie aber bei Wowas Mutter, die in einem Mehrfamilienhaus wohnte. Man zeigte Tomek Luftschutzräume, die jede einzelne Wohnung besaß, und da drin gaben auch Gasmasken... Tomek hatte ein mulmiges Gefühl, als sie in diesem Luftschutzraum stand.
Wowa wohnte am Rande der Stadt, hinter dem Haus begann schon die Wüste. Man arrangierte Essen im Hof. Es war April und am Abend ging die Hitze weg. Wowas Familie war sehr freundlich und nach einiger Flaschen Wein erzählten sie Tomek ihre Lebensgeschichte.
Wowa war ein Eisenbahningenieur von Beruf und arbeitete bei der Bahn in Rostow. Als sie nach Israel immigrierten, konnte er solche Arbeit nicht finden, weil damals Eisenbahn in Israel fast stillgelegt war. So begann er zuerst als Lkw-Fahrer zu arbeiten. Er lieferte Milch und Milchprodukte für verschiedene Läden mit noch einem Lkw-Fahrer zusammen. Dieser Fahrer war in Israel geboren und nannte sich Tzabar. Schon in erster Woche stellte Wowa fest, dass dieser Tzabar eine originelle Methode der Lagerung von zu transportierenden Waren benutzte. Wegen dieser Methode mussten sie bei jeder Lieferung den ganzen Lkw zuerst ausladen und dann wieder aufladen. In Russland war es für Wowa gewöhnlich, Verbesserungsvorschlägen immer einzubringen, was er auch in Israel zu tun versuchte und lernte gleich, dass in Länder des klassischen Kapitalismus jeder seinen Platz gut kennen musste. Der Tzabar erzählte ihm, dass sein Großvater genauso machte, danach sein Vater und er konnte überhaupt keinen Sinn finden, etwas zu ändern. Man sollte sich doch vorstellen, dass Wowa noch kein Ivrit konnte, und Tzabar beherrschte nur die Reste von Polnisch seines Opas. Die Diskussion war sehr lebhaft, aber nicht produktiv. Wowas Verbesserungsvorschlag wurde abgelehnt.
Wowa verstand, dass er ohne Sprache weiter nicht kommen konnte und begann den Ulpan – Ivritsprachkurs, zu besuchen. Die progressiven Methoden, die man dort benutzte, beeindruckte ihn sehr. Die Lehrerin konnte kein Wort auf Russisch und die Studierende konnte noch nicht hebräisches Alphabet und sogar später, als ihnen das Alphabet schon bekannt war, gab es für sie keine Möglichkeiten, das gewünschte Wort im Wörterbuch zu finden, weil das Lesen auf Ivrit eine besondere Kunst ist. So versuchte die Lehrerin jedes Wort mit Hilfe Gestik und Pantomime zu erklären, was sehr lustig war, aber nicht ausgesprochen resultativ und nahm zu viel Zeit in Anspruch. Manchmal errieten die Studierenden das Wort, manchmal tippten sie daneben. So verbesserte Ulpan Wowas Ivritkenntnisse nur sehr wenig.
Nach dem Ulpan entschied Wowa seinen Schicksal selbst zu steuern und öffnete einen Laden, wo man russische Bücher und DVDs kaufen konnte. Er rief seinen Bekannten Monja Feldmann an, um die Lieferung der Bücher zu vereinbaren. Als er seinen Container mit Bücher und DVDs bekam, war er über Monjas Geschmack verblüfft. Solche Bücher würde er sogar im Alptraum nicht auswählen. Besonders gefiel ihm, dass Monja eine große Menge von christlichen Gebetbüchern schickte, wissend, dass alle Kunden von Wowa Juden waren. Danach wurde Wowa gezwungen, selbst nach Rostow zu fliegen, um Bücher auszuwählen.
Unterdessen immigrierten viele Wowas Verwandte und Freunde nach Israel. Sie alle, um etwas Geld zu sparen, mieteten keine Wohnungen, sondern stationierten bei Wowa, manchmal bis zu einem Jahr. Natürlich bezahlten sie Wowa nicht und aßen sogar auf Wowas Kosten. Dazu kaufte Wowa noch ihnen Handys. Mehrere von ihnen taten später, als sie in ihre eigenen Wohnungen eingezogen waren, als ob sie Wowa nie kannten.