Das Igors Schicksal hatte seine Höhe und Tiefe. Es dauerte nicht zu lange, bis er feststellen konnte, dass Buchhaltung dennoch nicht seine Sache war. Er kündigte den Job und verlass gleichzeitig Rostow und seine Frau samt Kind (Kegel abgesehen). Igor fuhr nach Moskau, wo er zusammen mit seinem Bruder in Waffenhandel einsteigen wollte. Sie hatten schon zwei gutgehende Geschäfte, als es sich herausgestellt wurde, dass ohne den Segen der Mafia keine Waffengeschäfte laufen könnten. Die durchtrainierten jungen Leute von Mafia erklärten den Gebrüder sehr verständlich, dass sie nur in Falle den freiwilligen Verzicht von neunzig Prozenten der Profit am Leben bleiben dürfen. Dann spürte Igor, und zwar deutlich, dass moskauer Klima ihm überhaupt nicht passt und kam zurück nach Rostow.
Es erübrigte sich zu sagen, dass das moskauer Abenteuer seine Spuren hinterließ. Igor fühlte sich jetzt als echter Businessman und als solcher öffnete einen Laden, wo er Markenledertaschen zu verkaufen versuchte. Es gab nicht genug kultivierte Leute in Rostow, um hochqualifizierte Lederbearbeitung zu schätzen, immerhin gelang es ihm, sich nicht Bankrott zu machen, und er hielt sich über das Wasser. Er hat wieder verheiratet. Das war eine seiner Kommilitoninnen. Zusammen mit Befriedigung alter Reiz bekam Igor die Möglichkeit seinen Erfolg zu demonstrieren, weil seine Gemahlin mit alten Freunden gut vernetzt war. Er besaß zwar keinen Mercedes, aber demonstrierte gern hin und wieder den passenden goldenen Schlüsselanhänger seinen ehemaligen Kommilitoninnen.
Letzten Endes lief alles wieder gut, er wurde zu Mitglied der „Einiges Russland“ Partei. Er hatte jetzt ein ganz neues Bild von sich selbst – aber Igor war auf gar keinen Fall überkandidelt. Sein Haus besuchten viele Gäste, auch die, die keinen Erfolg vorweisen können. Ein besonderes Vergnügen war ihm diesen Armen (die nicht von dieser Welt waren) klein Geld zu spendieren, damit diese Armen sich mit Taxi nach Hause kutschieren ließen. Igor sah sich selbst als einen erfolgreichen, klugen, großzügigen, unternehmungslustigen Mann vor.
Alles war samt und sonders schön und gut, inmitten seinem Glücklichsein passierte Default. Inflation vernichtete alles, was man hatte. Niemand konnte jetzt sich Markenledertaschen leisten. Igor war pleite. Er löste seine Ehe auf und fuhr nach Moskau.
Diesmal ging es nicht so gut. Sein Bruder war im Knast und Mafia gönnte ihm keine Lizenz zum Waffenverkauf. Das Leben begann zum Alptraum zu tendieren. Inzwischen begegnete er einer Frau und heiratete sie. Die Frau wohnte in der Moskauer Region, in der Stadt Lüberzy, und arbeitete als Gefängniswärterin. Igor pflegte ihr zu sagen, dass sie die Arbeit nach Hause mitbringt, weil er sich als Häftling fühlte. Sie antwortete immer, dass Ordnung muss sein.
XX XXXXXXXXXXXXXXX XXX XXXXXXXXXXXXX XX XXX XXX XX XX XXX XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX XXX XX XXXXXXX XXX XXX XX XX XXX XXXXXXX XXXXXXXXXXXXX XXXXXXXXXX. Igor konnte keinen Job finden. Sie wohnten am Rand der Stadt, in einem kleinen Eigentumshaus und er begann um Gemüsegarten zu kümmern. Dabei dachte er, dass Imperator Diokletian auch seinen eigenen Kohl anbaute. Vielleicht war Diokletian als Gärtner mehr begabt, aber Igors Kohl wollte nicht gedeihen, genauso wie Möhren und Gurken. Nur Krautrübe war einverstanden sich weiter zu entwickeln, aber gerade Krautrübe hasste Igor. In Südrussland gibt es keine Krautrübe und er war schlicht und einfach nicht daran gewöhnt, so was zu verzehren.
Gerade zwischen einigen Gartenpflegeseancen entdeckte Igor für sich die Primärtherapie von Arthur Janov und war bezaubert von ihr. Er übte Urschrei im Garten und erschrak die ganze Nachbarschaft. Die fragten seine Frau, ob ihr Mann unter ungewöhnlich starke Verstopfung litt. Nach der kurzen Unterhaltung mit ihrem Ehemann (dank ihrer langjährigen Berufserfahrung als „Psychologin“, die mit Insassenerziehung beschäftigt war) konnte der frisch bekehrte Psychotherapeut keinen Mucks mehr von sich geben. Von diesem Moment an wagte er den Urschrei nur im Keller zu praktizieren.
Nach einigen Übungen fühlte sich Möchtegernpsychotherapeut imstande, einige Neophyten zu erwerben. Er begann in verschiedenen Sozialnetzwerken psychologische Ratschläge zu schreiben und war dabei sogar erfolgreich. Sein Auditorium wuchs ständig und er fühlte, dass er fest im Sattel saß. Inzwischen gebar die glückliche Familie ein Kind. Alles ging wieder gut, doch eines Tages fand Frau Gemahlin, dass die Zeit für ihren Mann schon gekommen ist, um einen neuen Job endlich zu finden. Aber gerade im diesen Moment hatte Igor keinen Bock für reguläre Arbeit, weil seine Internetaktivitäten sehr viel Zeit in Anspruch nahmen.
Wennschon, dennschon, als Folgen so was von antagonistischen Widersprüchen fühlte Igor sich nicht Imstande, diese Ehe weiter zu führen. Also löste er seine Ehe auf und fuhr nach Rostow. XXX XXX XXX XXXXX XX XX XXXXXXXXXXXX XXXXXXX XX XXX XXXXXXXX XXX XXXXXXX XX XXX XXXXXXXXXXX XXXXXXXXXXXXXXXXXXXX XX XXXXXX XXX XX.
In Rostow war es zurzeit auch nicht besonders schön. Seine erste Frau war schon wiederverheiratet, die zweite emigrierte aus dem Land und es gab keine Kandidatinnen für die Nummer Vier. Wohl oder übel musste er nach einen Job suchen, der ihm genügend Zeit für Internetaktivitäten lassen könnte. Es war ein Glück, dass einer seiner Kommilitonen ihm als Privat-Dozent beim Pädagogischen Institut zu arbeiten vorschlug. Die Arbeit brachte wenig Geld und westliche Psychologe war wieder nicht im Trend in Russland, so dass er fürchtete, dass man ihn irgendwann feuert, aber er hatte viel Zeit, um seinen Netzruhm zu pflegen. Igor versuchte jetzt so selten wie es nur möglich war, alten Freunden zu begegnen. Es gab nichts mehr, womit er prahlen konnte. Aber seine Vorlesungen beginnt er damit, dass er seine Internetadresse auf der Tafel schreibt.
Also kommt Igor nach der Arbeit nach Hause. Er wohnt in der uliza Baumana, in der Altstadt von Rostow. Hier befand sich früher jüdisches Ghetto. Sein Großgroßvater kaufte hier ein Eigentumshaus nach dem er den Pogrom von 1905 überlebte. Der Pogrom organisierte damaliger Oberbürgermeister von Rostow Herr General-Major Graf Kotzebue Baron Pilar von Pilchau. Der deutsche Konsul schrieb in seinem Bericht, dass 176 Menschen ermordet waren und 500 verletzt. Die russische Polizei sprach nur von 40 Toten, deshalb war der Zar Nikolaus der Zweite sehr enttäuscht, als er von dem Pogrom berichtet wurde. Wie dem auch sei, fragte er: Warum denn so wenig? Das war aber Anno Tobak.
Igors Großgroßvater überlebte auch den zweiten Pogrom im 1920. Für diesen Pogrom war die Erste Rote Reiterarmee von Genossen Marschall Budönnyj verantwortlich. Selbstverständlich war das Großgroßvaters Haus nach der Revolution enteignet, aber zum Glück erlaubte man der Familie immer noch im ersten Stock des Hauses zu wohnen. Das war ein zweistöckiges Holzhaus, das schon alt in der Verkaufszeit war und das neunzig Quadratmeter für alle drei Stöcke hatte, dazu gehörte noch einen Hof – stolze zwanzig Quadratmeter groß.
Diese Straße – uliza Baumana – ist allen Bewohnern von Rostow-am-Don sehr bekannt. Die Straße beginnt mit der städtischen venerologischen Fürsorgestelle und endet mit der städtischen Ausnüchterungsanstalt. Einige von Bewohner mussten hin oder her mal als Gäste in erster oder zweiter Anstalt eintreten, obgleich keiner gute Erinnerungen über diese Besuche erbringen konnte. Wiederum man muss zuweilen für seine Freude büßen...
Die Straße mündet in Alten Markt – Staryj Basar. Neben ihm steht Alter Dom – Staryj Sobor. Touristen fragen oft, wo befinden sich dann der Neue Markt und der neue Dom. Die richtige Antwort ist – nirgendwo. Man zerstörte Neuer Markt – Nowyj Basar und Neuer Dom – Nowyj Sobor nach der Revolution. So blieben in Rostow nur die Alten.