Lamont mußte das zugeben.
Aber dann fiel ihm etwas anderes ein, ein neuer Gedankengang, den Hallam, wie er sich erinnerte, persönlich in einem seiner Artikel für die breite Öffentlichkeit dargelegt hatte. Angewidert suchte er den Artikel heraus. Es war wichtig, zu wissen, was Hallam gesagt hatte, ehe er die Angelegenheit weiterverfolgte.
Der Artikel lautete auszugsweise: "Aufgrund der stets gegenwärtigen Schwerkraft assoziieren wir den Begriff "bergab" mit jener Art unvermeidlicher Veränderung, die wir zur Erzeugung von Energie verwenden können, - Energie, die sich in nützliche Arbeit umwandeln läßt. Es ist das "bergab" laufende Wasser, das in den letzten Jahrhunderten Räder drehte, die ihrerseits Maschinen wie Pumpen und Generatoren antrieben. Aber was geschieht, wenn alles vorhandene Wasser bergab geflossen ist?
Die Wiederaufnahme der Arbeit ist dann erst möglich, wenn das Wasser wieder auf den Berg - bergauf - geschafft worden ist und das erfordert Arbeit. Genau genommen erfordert es mehr Arbeit, das Wasser bergauf zu ziehen, als sich wieder herausholen läßt, wenn wir es dann erneut bergab fließen lassen. Wir arbeiten also mit einem Energieverlust. Zum Glück übernimmt die Sonne diese Arbeit für uns. Sie läßt das Meer verdunsten, so daß der Wasserdampf hoch in die Atmosphäre steigt, dort Wolken bildet und früher oder später als Regen oder Schnee wieder herabfällt. Dieser Niederschlag durchtränkt den Boden in allen Höhenlagen, füllt die Bäche und Ströme und läßt das Wasser auf ewig bergab laufen.
Doch nicht für alle Ewigkeit. Die Sonne kann den Wasserdampf aufsteigen lassen - doch nur weil sie, nuklear gesehen, ebenfalls bergab läuft. Sie läuft mit einer Geschwindigkeit bergab, die unendlich größer ist als das Tempo jedes irdischen Flusses, und wenn sich der Strom erschöpft hat, gibt es unseres Wissens nichts, was da wieder bergauf gezogen werden kann.
Alle Energiequellen des Universums sind bergab gerichtet -m eine Richtung , und wir können ein vorübergehendes Bergauf, ein Zurück, nur erzwingen, indem wir uns ein noch größeres Bergab in der Nähe zunutze machen. Wenn wir nützliche Energie wollen, für alle Ewigkeit, benötigen wir dafür eine Straße, die in beiden Richtungen bergab führt. Das ist ein Paradoxon in unserem Universum; unsere Vernunft gebietet, daß jedes Ding, das in einer Richtung bergab führt, in der anderen wieder nach oben geleitet wird.
Aber müssen wir uns auf unser Universum beschränken? Denken wir einmal an das Parauniversum. Auch dieses Universum hat Straßen, die in einer Richtung bergab führen und in der anderen nach oben. Diese Straßen passen jedoch nicht zu den unseren. Es ist denkbar, einer bergab führenden Straße aus dem Parauniversum in unser Universum zu folgen, die jedoch, wenn wir sie von unserem Universum in das Parauniversum zurückbeschreiten, wiederum bergab führt - weil die beiden Univer-sen unterschiedliche Gesetze kennen. Die Elektronenpumpe macht sich die Vorteile einer Straße zunutze, die in beiden Richtungen bergab führt. Die Elektronenpumpe ..."
Lamont blätterte zurück und las noch einmal den Titel des Artikels. Er lautete: "Die Straße, die in beiden Richtungen bergab führt."
Er begann zu überlegen. Die hier entwickelten Vorstellungen waren ihm natürlich nicht neu, ebensowenig wie ihre thermodynamischen Konsequenzen. Aber warum sollte er die Vermutungen nicht einmal überprüfen? Vermutungen waren die schwachen Punkte in jeder Theorie. Wenn nun die Schlußfolgerungen nicht stimmten? Welche Folgen ergaben sich, wenn man von anderen Vermutungen ausging? Von gegensätzlichen?
Er begann aufs Geratewohl, doch nach kaum einem Monat hatte er das Gefühl, das jeder Wissenschaftler kennt - das endlose Klicken der Details, die unerwartet in den richtigen Zusammenhang fallen, der ärgerlichen Ungereimtheiten, die plötzlich keine Probleme mehr bergen - das Gefühl der Wahrheit.
Von diesem Augenblick an begann er Bronowski unter Druck zu setzen.
Und eines Tages sagte er: "Ich werde noch einmal mit Hallam sprechen."
Bronowski hob die Augenbrauen. "Wozu das?"
"Damit er mich rauswirft."
"So habe ich mir das fast gedacht. Du bist unglücklich, wenn sich deine Lage ein wenig normalisiert."
"Du begreifst nicht. Es ist mir wichtig, daß er es ablehnt, mich anzuhören. Ich brauche mir dann hinterher nicht sagen zu lassen, ich hätte ihn übergangen, er hätte nichts davon gewußt."
"Wovon? Von der Übersetzung der Parasymbole? Die gibt es doch noch gar nicht. Komm, du darfst nicht voreilig handeln, Pete."
"Nein, nein, das nicht." Und mehr wollte er nicht sagen.
Hallam machte es Lamont nicht gerade einfach; es dauerte einige Wochen, ehe er für den jüngeren Mann Zeit fand. Aber auch Lamont hatte nicht die Absicht, Hallam das Gespräch leichtzumachen.
Er spazierte kampflustig in das Büro. Hallam hatte ein starres Gesicht aufgesetzt und musterte sein Gegenüber mit düsterem Blick.
Abrupt sagte er: "Was ist das für eine Krise, von der Sie da reden?"
"Es hat sich etwas ergeben, Sir", sagte Lamont tonlos, "angeregt durch einen Ihrer Artikel."
"Oh?" schnelclass="underline" "Welcher wäre das?"
" "Die Straße, die in beiden Richtungen bergab führt", Sir."
"Und was ist damit?"
"Ich glaube, die Elektronenpumpe führt nicht in beiden Richtungen bergab, wenn ich Ihren Vergleich benutzen darf, der übrigens dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nicht gerade gerecht wird."
Hallam runzelte die Stirn. "Was wollen Sie?"
"Es läßt sich am besten erklären, wenn ich die Feldgleichungen für die beiden Universen aufzeichne, Sir, und eine Wechselwirkung demonstriere, die bis heute noch nicht bedacht worden ist - leider, wie ich meinen möchte."
Mit diesen Worten marschierte Lamont auf die Thixo-Tafel zu, warf mit schneller Hand die Gleichungen hin und gab dabei hastige Erklärungen.
Lamont beabsichtigte Hallam zu erniedrigen und zu reizen, da er den mathematischen Details nicht folgen konnte.
"Hören Sie, junger Mann", knurrte Hallam, "ich habe jetzt keine Zeit, mich auf eine umfassende Diskussion irgendwelcher Aspekte der Paratheorie mit Ihnen einzulassen. Schicken Sie mir einen kompletten Bericht, und wenn Sie mir jetzt eine kurze Zusammenfassung Ihres Anliegens geben könnten, bitte sehr."
Lamont kehrte der Thixo-Tafel mit unverhohlener Verachtung den Rücken. Er sagte: "Also gut. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik beschreibt einen Prozeß, der unweigerlich alle Extreme begradigt. Wasser läuft nicht unweigerlich bergab; in Wirklichkeit werden nur Extreme des Schwerkraftpotentials ausgeglichen. Wasser gurgelt ebensoleicht bergauf, wenn es zum Beispiel unter der Erde eingeschlossen ist. Man kann sich die Konfrontation zweierverschiedener Temperaturebenen zunutze machen, doch das Ergebnis läuft schließlich immer darauf hinaus, daß die Temperatur auf einer Zwischenebene ausgeglichen wird; der heiße Teil kühlt sich ab und der kalte Teil erwärmt sich. Sowohl das Abkühlen als auch das Erwärmen sind gleiche Aspekte des Zweiten Hauptsatzes und bei entsprechenden Voraussetzungen gleichermaßen spontan."
"Halten Sie mir hier keinen Vortrag über die Grundlagen der Thermodynamik! Was wollen Sie eigentlich? Ich habe wenig Zeit."
Ungerührt, ohne sich antreiben zu lassen, fuhr Lamont fort: "Auch die Elektronenpumpe wird nutzbar gemacht durch den Ausgleich von Extremen. In diesem Falle sind die Extreme die physikalischen Gesetze der beiden Universen. Die Bedingungen, die diese Gesetze ermöglichen - wie diese Bedingungen auch aussehen mögen , werden von einem Universum in das andere übertragen, und als Endergebnis dieses Prozesses werden wir zwei Universen haben, in denen die Naturgesetze identisch sind - und zwar im Vergleich zur heutigen Situation irgendwo in der Mitte liegend. Da diese Konsequenz Ungewisse, doch zweifellos große Veränderungen in diesem Universum hervorrufen wird, müßte wohl ernsthaft erwogen werden, die Pumpen zu stoppen und den gesamten Vorgang für immer zu unterbrechen."