Damals war alles furchterregend gewesen. Da waren andere junge Denklinge gewesen, die alle pulsierten und schimmerten und die Form veränderten - trotz der elterlichen Zeichen ringsum, daß sie fest und glatt bleiben und der Triade keine Schande machen sollten. Ein kleiner Linksling, ein Spielkamerad Odeens, hatte sich tatsächlich wie ein Baby verflacht und wollte sich ungeachtet aller Anstrengungen seines beschämten Elterlings nicht wieder entflachen. (Inzwischen war ein völlig normaler Student aus ihm geworden... wenn auch kein Odeen, wie Odeen mit beträchtlicher Selbstgefälligkeit feststellte.)
An jenem ersten Schultag hatten sie mit einer Anzahl von Hartlingen zu tun, die bei jedem stehenblieben, um das Vibrationsschema der jungen Denklinge auf besondere Weise aufzuzeichnen. Das ermöglichte die Entscheidung, ob sie zur Unterweisung angenommen wurden oder ob noch ein Intervall zu warten war; und wenn die Entscheidung positiv ausfiel, wurde auch gleich das Lehrgebiet bestimmt.
Bei Annäherung des ersten Hartlings hatte sich Odeen mit verzweifelter Anstrengung glatt aufgerichtet und starr an sich gehalten.
Der Hartling hatte gesagt (und der unbekannte, seltsame Klang dieser Stimme brachte seine Entschlossenheit, erwachsen zu sein, fast ins Wanken): "Da hätten wir ja einen ganz aufrechten kleinen Denkling. Wie wirst du gerufen, Links-ling?"
Zum erstenmal in seinem Leben wurde Odeen ohne irgendeine Verniedlichung "Linksling" genannt, und er fühlte sich fester als je zuvor, als er nun herausbrachte: "Odeen, HartHerr." Er gebrauchte die höfliche Anrede, die sein Eiterung ihm eingetrichtert hatte.
Schwach erinnerte sich Odeen daran, wie er anschließend durch die Hart-Höhlen geführt wurde, die voller Ausrüstung und Maschinen, voller Büchereien und bedeutungsloser Dinge und Geräusche waren. Noch deutlicher als diese Sinneseindrücke war ihm seine innere Verzweiflung in Erinnerung. Was würde man mit ihm anstellen?
Sein Eiterung hatte gesagt, daß er lernen würde, aber er wußte nicht recht, was dieses Wort eigentlich bedeutete, und als er seinen Eiterung fragte, stellte es sich heraus, daß der Ältere auch keine Ahnung hatte.
Es dauerte eine Weile, bis er diese Frage beantwortet erhielt, und die Erkenntnis war durchaus angenehm, sehr angenehm sogar, wenn sie auch ihre negativen Aspekte hatte.
Der Hartling, der ihn zum erstenmal "Linksling" genannt hatte, wurde sein erster Lehrer. Er lehrte ihn die Interpretation der Wellenaufzeichnungen, so daß nach einiger Zeit aus einem scheinbar unverständlichen Kode klare Worte wurden - so leicht verständlich wie die Worte, die er mit seinen eigenen Vibrationen erzeugen konnte.
Aber dann verschwand der erste Lehrer und kam nicht wieder, und ein zweiter Hartling nahm seinen Platz ein. Odeen bemerkte das nicht sofort. In jenen Tagen war es so schwierig, die Hartlinge voneinander zu unterscheiden, ihre Stimmen auseinanderzuhalten. Aber schließlich wuchs doch die Gewißheit heran. Langsam wuchs diese Gewißheit, und die Veränderung ließ ihn erzittern. Er verstand ihre Bedeutung nicht.
Er nahm schließlich allen Mut zusammen und fragte: "Wo ist mein Lehrer, Hart-Herr?"
"Gamaldan? ... Er wird dich nicht mehr besuchen, Linksling."
Einen Moment war Odeen sprachlos. Dann sagte er: "Aber Hartlinge ziehen doch nicht weiter..." Er beendete den Satz nicht, brach erstickt ab.
Der neue Hartling blieb passiv, sagte nichts, gab keine Information.
Wie Odeen noch merken sollte, war es immer so. Die Hart-linge sprachen niemals über sich. Über alle anderen Themen ließen sie sich aus. Wenn es um sie ging - nichts.
Zahlreiche Hinweise konnten Odeen schließlich nur zu dem Schluß bringen, daß auch die Hartlinge weiterzogen; daß sie nicht unsterblich waren (wie so viele Weichwesen als selbstverständlich annahmen). Doch erhielt er von keinem Hartling eine klare Bestätigung. Odeen und die anderen StudentenDenklinge diskutierten manchmal darüber, zögernd, unruhig. Jeder wußte von einem Umstand zu berichten, der klar auf die Sterblichkeit der Hartlinge hinwies, und war dennoch unsicher und wollte nicht den offensichtlichen Schluß ziehen. Schließlich rückten sie wieder von dem Thema ab.
Den Hartlingen schien es egal zu sein, daß Hinweise auf ihre Sterblichkeit existierten. Sie taten nichts, um sie zu verschleiern. Aber sie sprachen auch niemals darüber. Und wenn eine direkte Frage aufkam (wie es unweigerlich manchmal geschah), gaben sie niemals Antwort; weder bestätigten sie etwas, noch stritten sie ab.
Wenn sie tatsächlich weiterzogen, (die jungen Denklinge nannten es "sterben"), mußten sie auch geboren werden; trotzdem sprachen sie niemals davon, und Odeen bekam niemals einen jungen Hartling zu Gesicht.
Odeen vermutete, daß die Hartlinge ihre Energie nicht von der Sonne, sondern aus den Felsen bezogen - oder daß sie zumindest pulverisiertes schwarzes Gestein in ihre Körper aufnahmen. Einige Studenten teilten diese Ansicht. Andere stellten sich heftig dagegen. Eine klare Entscheidung gab es jedoch nicht, denn niemand hatte bisher einen Hartling beim Essen beobachtet, und die Hartlinge ließen auch hierüber nichts verlauten.
Schließlich nahm Odeen ihre Zurückhaltung als selbstverständlich hin - als einen Teil ihres Wesens. Vielleicht, so überlegte er, lag es an ihrer Individualität, an der Tatsache, daß sie keine Triaden bildeten. Das mochte eine Mauer um sie errichten.
Außerdem lernte Odeen in dieser Zeit so viele andere wichtige Dinge kennen, daß die Frage nach dem Privatleben der Hartlinge ohnehin unwichtig wurde. Er erfuhr zum Beispiel, daß die ganze Welt zusammenschrumpfte, daß sie kleiner wurde...
Es war sein neuer Lehrer Losten, der ihm das erzählte.
Odeen hatte sich nach den unbewohnten Höhlen erkundigt, die sich endlos in den Tiefen der Welt erstreckten, und Losten schien sich darüber zu freuen. "Fürchtest du dich vor dieser Frage, Odeen?"
(Er wurde jetzt einfach mit seinem Namen angeredet und nicht mehr nur als Linksling. Es erfüllte ihn immer wieder mit Stolz, wenn ein Hartling ihn Odeen nannte. Viele taten das. Odeen war sehr lernbegierig, und der Gebrauch seines Namens kam ihm wie eine Anerkennung dieser Tatsache war. Mehr als einmal hatte Losten seine Befriedigung darüber geäußert, ihn als Schüler zu haben.)
Odeen fürchtete sich tatsächlich und gab das nach einigem Zögern auch zu. Es fiel ihm stets leichter, Unzulänglichkeiten vor einem Hartling einzugestehen als vor einem anderen Denkling, geschweige denn vor Tritt; nein, ganz unmöglich, Tritt so etwas zu erzählen ... Es war noch in den Tagen vor Dua.
"Warum fragst du dann?"
Wieder zögerte Odeen, ehe er langsam sagte: "Ich fürchte mich vor den unbewohnten Höhlen, weil mir früher erzählt wurde, es wohnten viele Ungeheuer darin. Aber ich weiß das natürlich nur indirekt; es wurde mir eben von anderen Kindern erzählt, die es auch nicht aus eigener Anschauung wissen konnten. Ich möchte gern die Wahrheit erfahren, und dieser Wunsch ist mit der Zeit so stark geworden, daß meine Neugier nun fast größer ist als meine Angst."
Losten sah ihn erfreut an. "Gut! Neugier ist nützlich, Angst nutzlos. Deine innere Entwicklung macht ausgezeichnete Fortschritte, Odeen, und denk daran - letztlich zählt überhaupt nur deine innere Entwicklung. Unsere Hilfe dabei ist nebensächlich. Da du es wirklich wissen willst, läßt sich ganz einfach sagen, daß die Höhlen tatsächlich völlig unbewohnt sind. Sie stehen leer. Nichts befindet sich darin außer den unwichtigen Überbleibseln vergangener Zeiten."
"Doch wer hat diese Dinge zurückgelassen, Hart-Herr?" Unsicher wählte Odeen die förmliche Anrede, wie immer, wenn es so offensichtlich um Kenntnisse ging, die ihm noch abgingen.
"Die früheren Bewohner. Vor Tausenden von Zyklen gab es noch viele tausend Hartlinge und Millionen von Weichwesen. Heute sind es weniger denn je, Odeen. Heute leben nicht ganz dreihundert Hartlinge und nicht einmal zehntausend Weichwesen auf dieser Welt."
"Warum?" fragte Odeen schockiert. (Nur dreihundert Hartlinge. Das war ein offenes Eingeständnis, daß die Hartlinge weiterzogen, doch jetzt war nicht der Augenblick, darüber nachzudenken.)