Leise näherte er sich dem Hartling und blieb stehen. "HartHerr", sagte er.
Der Hartling blickte auf, und die Luft vibrierte um ihn, wie sie es nach Odeens Worten immer tat, wenn zwei Hartlinge miteinander sprachen. Nun schien ihn der Hartling erst wirklich wahrzunehmen. Er sagte: "Na, das ist ja ein Rechtsling. Was suchst du denn hier? Hast du deinen kleinen Linksling bei dir? Fängt denn heute ein neues Semester an?"
Tritt hörte nicht zu. Er fragte: "Wo finde ich Estwald, Herr?"
"Wen?"
"Estwald."
Der Hartling schwieg eine lange Zeit. Dann fragte er: "Was hast du denn mit Estwald zu schaffen, Rechtsling?"
Tritt war widerspenstig: "Es ist wichtig, daß ich mit ihm spreche. Bist du Estwald, Hart-Herr?"
"Nein, nein... Wie heißt du, Rechtsling?"
"Tritt, Hart-Herr."
"Ich verstehe. Du bist der Rechtsling aus Odeens Triade, nicht wahr?"
"Ja."
Die Stimme des Hartlings schien weicher zu werden. "Ich fürchte, du kannst Estwald im Augenblick nicht sprechen. Er ist nicht hier. Wenn ich dir sonstwie helfen kann..."
Tritt wußte nicht, was er sagen sollte. Er stand einfach nur da.
"Geh jetzt nach Hause", fuhr der Hartling fort. "Sprich mit Odeen darüber. Er wird dir schon helfen. Ja? Geh nach Hause, Rechtsling."
Der Hartling wandte sich ab. Er schien sehr mit anderen Dingen beschäftigt, und Tritt stand noch immer am gleichen Fleck. Dann bewegte er sich lautlos in einen anderen Gang. Der Hartling blickte nicht auf.
Tritt wußte nicht sofort, warum er diese Richtung eingeschlagen hatte. Zuerst hielt er es einfach für richtig. Dann wurde ihm klar, daß er die dünne Wärme von Nahrung verspürte und davon kostete.
Er hatte gar nicht gewußt, daß er hungrig war; jetzt genoß er die Speise.
Die Sonne war nicht da. Instinktiv blickte er auf, doch natürlich war er in einer Höhle. Trotzdem war die Nahrung besser, als er es jemals an der Oberfläche empfunden hatte. Er sah sich verwundert um. Vor allen Dingen verwunderte es ihn, daß er sich wunderte.
Er hatte Odeen manchmal angefahren, weil sich Odeen über so viele Dinge verwunderte, die ihm, Tritt, nicht wichtig waren. Jetzt wunderte er sich ebenfalls - er, Tritt! Und das, worüber er sich da wunderte, 'war wichtig! Plötzlich erkannte er, wie wichtig es war. Stechend heiß durchfuhr ihn die Erkenntnis, daß er sich wunderte, weil etwas in ihm anzeigte, daß seine Beobachtung wichtig war.
Er handelte schnell, erstaunt über seinen Mut. Nach einer Weile kehrte er um. Dabei kam er auch an dem Hartling vorbei, mit dem er vorhin gesprochen hatte. Er sagte: "Ich gehe jetzt nach Hause, Hart-Herr."
Der Hartling murmelte nur etwas Unverständliches.
Er war immer noch beschäftigt, beugte sich über irgend etwas, machte irgendwelche dummen Dinge und erkannte das Wichtige nicht.
Wenn die Hartlinge so großartig und mächtig und klug waren, überlegte Tritt, wie konnten sie dann zugleich so dumm sein?
Dua befand sich auf dem Wege in die Hart-Höhlen. Sie trieb sich hier herum, weil die Sonne untergegangen war und sie irgend etwas tun mußte, etwas, das ihre Heimkehr noch hinausschob, das verhinderte, daß sie sich die Vorhaltungen Tritts und die halb verlegenen, halb resignierten Vorschläge Odeens anhören mußte. Aber sie war auch hier, weil die Höhlen selbst eine Anziehung auf sie ausübten.
Schon lange hatte sie diese Verlockung gespürt, tatsächlich schon seit ihrer Kindheit, und hatte längst aufgegeben, sie vor sich selbst zu verleugnen. Gefühlslinge durften solche Empfindungen eigentlich nicht kennen. Bei sehr kleinen Gefühlslingen war das manchmal der Fall - Dua war alt und erfahren genug, um das zu wissen , aber das ließ schnell nach oder wurde den Kleinen schleunigst ausgetrieben, wenn es nicht schnell genug nachließ.
Aber schon als Kind hatte ihr nachdrückliches Interesse an der Welt, an der Sonne und den Höhlen und überhaupt allen Dingen nicht nachgelassen - bis der Eiterung ihr sagte: "Du bist richtig absonderlich, Dua, mein Liebling. Du bist ein seltsamer kleiner Mittling. Was soll nur aus dir werden?"
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was an ihrem Wissensdrang so absonderlich war. Sie fand schnell heraus, daß ihr Eiterung diese Frage auch nicht beantworten konnte. Daraufhin versuchte sie es bei ihrem Links-Vater, der jedoch die sanfte Ratlosigkeit des Rechts-Vaters vermissen ließ. Er schnappte: "Warum fragst du, Dua?" und sein Blick schien drohend in sie zu dringen.
Erschreckt lief sie davon und fragte ihn nicht wieder.
Doch eines Tages hatte ein anderer Gefühlsling ihres Alters "LinksG" hinter ihr hergeschrien, nachdem sie gesagt hatte, sie ... Sie wußte es nicht mehr - es war jedenfalls etwas, das ihr damals ganz natürlich vorgekommen war. Dua war fassungslos gewesen, ohne zu wissen, warum, und hatte ihren sehr viel älteren Links-Bruder gefragt, was ein LinksG wäre. Er war verlegen zurückgewichen - eindeutig verlegen - und hatte gemurmelt: "Ich weiß es nicht." Dabei war ganz klar gewesen, daß er es wußte.
Nach einigem Grübeln ging sie zu ihrem Elterling und fragte: "Bin ich ein LinksG, Pappie?"
Und er hatte erwidert: "Wer hat dich so genannt, Dua? Du darfst solche Worte nicht wiederholen."
Sie rieb sich an seiner vorderen Kante, dachte eine Weile darüber nach und fragte dann: "Ist das schlimm?"
"Du wirst schon darüber hinwegkommen", sagte er und wölbte sich ein wenig aus, um sie herumschwingen und vibrieren zu lassen - ein Spiel, das sie immer gemocht hatte. Jetzt machte es ihr aber keinen Spaß, denn er hatte ihr keine klare Antwort gegeben. Sie entfernte sich nachdenklich. Er hatte gesagt: "Du wirst darüber hinwegkommen." Also war da wirklich etwas. Aber was'?
Schon damals hatte sie kaum wirklich Freundinnen unter den anderen Gefühlslingen. Die flüsterten und kicherten gern miteinander, während Dua lieber über die zerklüfteten Felsen schwebte und ihre rauhe Oberfläche genoß. Es gab allerdings einige Mittlinge, die netter waren als die übrigen und ihr weniger auf die Nerven gingen. Da war zum Beispiel Doral, die im Grunde so dumm war wie die anderen, die aber manchmal ganz amüsant plaudern konnte. (Doral war inzwischen eine Triade mit Duas Rechts-Bruder und einem jungen Linksling aus einem anderen Höhlensystem eingegangen einem Links-ling, den Dua nicht besonders mochte. Doral hatte dann in schneller Folge ein Baby-Links, ein Baby-Rechts und schließlich auch ein Baby-Mitt geboren. Sie war aber auch so dicht geworden, daß die Triade fast zwei Elterlinge zu haben schien und Dua sich fragte, ob die drei überhaupt noch verschmelzen konnten... Trotzdem hielt ihr Tritt immer wieder vor, welch gute Triade Doral da gebildet hätte.)
Sie und Doral hatten eines Tages allein zusammengesessen, und Dua hatte geflüstert: "Doral, weißt du, was ein LinksG ist?"
Doral hatte geschnalzt und sich zusammengezogen, als wollte sie nicht gesehen werden, und hatte gesagt: "Das ist ein Ge-fühlsling, der sich wie ein Denkling benimmt; du weißt schon: wie ein Linksling. Verstehst du: Links-Gefühlsling - LinksG! Verstehst du?"
Natürlich "verstand" Dua den Begriff. Er war ja auch ganz klar. Sie wäre selbst darauf gekommen, wenn sie sich so etwas nur hätte vorstellen können.
"Woher weißt du das?" fragte Dua.
"Die älteren Mädchen haben es mir erzählt." Dorals Substanz wirbelte durcheinander - eine Bewegung, die Dua als unangenehm empfand. "Es ist unanständig", sagte Doral.
"Wieso?" wollte Dua wissen.
"Weil es eben unanständig ist. Gefühlslinge dürfen sich nicht wie Denklinge benehmen."
Dua hatte niemals über diese Möglichkeit nachgedacht und wandte sich der Frage jetzt zu. "Warum denn nicht?" bohrte sie.
"Darum! Willst du noch etwas Unanständiges wissen?"
Dua konnte nicht anders: "Was denn?" fragte sie.
Doral antwortete nicht, doch ein Teil ihres Körpers weitete sich plötzlich aus und berührte die ahnungslose Dua, ehe sie sich einwölben konnte. Dua mochte das nicht. Sie wich zurück und sagte: "Laß das!"