"Nein, Selene."
"Außerdem benutzen wir natürlich Gleiter." In der Hand hielt sie eine kleine Patrone, an der eine Klammer und zwei dünne Röhrchen befestigt waren.
"Was ist das?" fragte Ben.
"Ein einfacher kleiner Flüssiggasbehälter. Er führt einen Dampfstrahl unter Ihre Stiefel. Die dünne Gasschicht zwischen Sohle und Boden reduziert die Reibung praktisch auf Null. Und Sie bewegen sich, als wären Sie im Weltall."
"Gefällt mir nicht. Es ist doch Verschwendung, hier ein Gas zu solchen Zwecken zu benutzen."
"Also, ich bitte Sie! Was für ein Gas benutzen wir wohl? Kohlendioxyd? Sauerstoff? Nein, ein Abfallgas - Argon. Das findet sich tonnenweise im Gestein des Mondes - aus dem milliardenjährigen Zerfall von Kalium-40... Auch das gehört zu meinem Vortrag, Ben... Für das Argon haben wir sonst kaum Verwendung. Wir könnten es eine Million Jahre lang in den Gleitern benutzen, ohne daß sich der Vorrat erschöpfen würde. Gut, Ihre Gleiter sind fest. Warten Sie, bis ich meine auch angelegt habe."
"Wie funktionieren sie denn?"
"Es geht alles von allein. Sie brauchen nur zu gleiten, das bewirkt den Kontakt, und der Gasdampf tritt aus. Der Vorrat reicht nur für ein paar Minuten, aber mehr brauchen Sie auch nicht."
Sie stand auf und half ihm hoch. "Schauen Sie hügelab-wärts... Los, Ben, der Hang ist ganz flach. Schauen Sie ihn sich an! Er wirkt doch fast waagerecht."
"Nein, das tut er nicht", sagte Denison widerspenstig. "Kommt mir wie ein Steilhang vor."
"Unsinn. Hören Sie mir gut zu. Sie halten Ihre Füße etwa fünfzehn Zentimeter auseinander, den einen ein paar Zentimeter vor dem anderen. Es ist gleichgültig, welcher Fuß vorn steht. Halten Sie dann die Knie gebeugt. Stemmen Sie sich nicht gegen den Wind, weil es nämlich keinen gibt. Versuchen Sie nicht nach oben oder nach hinten zu schauen, doch wenn Sie unbedingt müssen, können Sie zur Seite blicken. Und das Wichtigste: wenn Sie schließlich wieder ebenen Boden unter den Füßen haben, dürfen Sie nicht zu schnell abbremsen; Sie sind schneller, als Sie glauben. Lassen Sie das Gas einfach ausgehen, dann wird die Reibung Sie schon stoppen."
"Das behalte ich doch nie!"
"Aber natürlich. Ich bin die ganze Zeit an Ihrer Seite. Und wenn Sie wirklich fallen und ich Sie nicht auffangen kann, tun Sie nichts! Entspannen Sie sich und lassen Sie sich rollen oder gleiten. Hier gibt es keine Felsbrocken, mit denen Sie zusammenstoßen könnten."
Denison schluckte und schaute nach vorn. Der Südhang schimmerte im Erdlicht. Die winzigen Unebenheiten warfen lange schwarze Schatten, so daß die Oberfläche fleckig wirkte. Der Halbkreis der Erde schwebte direkt vor ihm am Himmel. "Fertig?" fragte Selene. Ihr schwerer Handschuh lag zwischen seinen Schulterblättern.
"Fertig", erwiderte Denison schwach.
"Ab geht die Post!" Sie versetzte ihm einen Stoß, und Denison spürte, wie er in Bewegung geriet. Es ging zuerst nur langsam voran. Er wandte sich wacklig zu ihr um, und sie sagte: "Keine Sorge. Ich bin bei Ihnen."
Er spürte den Boden unter den Füßen - doch dann war da nichts mehr. Der Gleiter hatte sich aktiviert.
Einen Augenblick lang glaubte er stillzustehen. Keine Luft hemmte seinen Körper, nichts schien an seinen Füßen vorbeizugleiten. Aber als er sich wieder zu Selene umwandte, bemerkte er, daß sich Lichter und Schatten auf der einen Seite mit zunehmender Geschwindigkeit nach hinten bewegten.
"Schauen Sie auf die Erde am Himmel", sagte Selenes Stimme in seinem Ohr, "bis Sie noch mehr Tempo draufhaben. Je schneller Sie gleiten, desto sicherer geht es auch. Halten Sie die Knie gebeugt. Sie machen sich sehr gut, Ben."
"Für einen Immi", keuchte Denison.
"Wie kommen Sie sich vor?"
"Wie beim Fliegen." Zu beiden Seiten war die Landschaft zu Schemen aus Hell und Dunkel geworden, die verschwommen zurückglitten. Er schaute hastig nach rechts, dann nach links und versuchte das Gefühl, daß ihm seine Umwelt nach hinten entglitt, in ein Gefühl der eigenen Vorwärtsbewegung umzuwandeln. Kaum war ihm das gelungen, als er auch schon wieder hastig zur Erde hinaufblicken mußte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. "Sie wissen ja gar nicht, wie das Fliegen auf dem Mond ist."
"Jetzt weiß ich es. Es muß wie das Gleiten sein - und das kenne ich."
Sie hielt mühelos mit ihm Schritt.
Denison bewegte sich jetzt so schnell, daß ihm die Bewegung auch beim starren Geradeausschauen bewußt wurde. Die Landschaft öffnete sich vor ihm und floß zu beiden Seiten vorbei. "Wie schnell kann man überhaupt gleiten?" fragte er.
"Bei einem guten Mondrennen", antwortete Selene, "sind Geschwindigkeiten von über hundertundfünfzig Stundenkilometern gemessen worden - alles natürlich an steileren Hängen. Sie erreichen wahrscheinlich fünfzig."
"Irgendwie kommt es mir viel schneller vor."
"Ist es aber nicht. Wir laufen schon wieder aus, Ben, und Sie sind nicht gestürzt. Konzentrieren Sie sich jetzt; wenn das Gas im Gleiter verbraucht ist, merken Sie die Reibung. Tun Sie überhaupt nichts. Gleiten Sie einfach weiter."
Im nächsten Augenblick spürte Denison wieder Druck unter seinen Stiefeln. Abrupt hatte er das Gefühl, überwältigend schnell dahinzurasen, und er ballte die Fäuste, um nicht instinktiv die Arme zu heben - in Abwehr eines Zusammenstoßes, der ausbleiben würde. Er wußte, daß er auf den Rücken fallen mußte, wenn er die Arme hochriß.
Er kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an, bis er das Gefühl hatte, seine Lungen müßten zerspringen, und dann sagte Selene: "Ausgezeichnet, Ben, ausgezeichnet. Ich habe noch keinen Immi erlebt, der sein erstes Gleiten ohne Sturz überstanden hat. Wenn Sie also noch fallen, macht es überhaupt nichts. Es ist jedenfalls keine Schande."
"Ich will aber nicht fallen", flüsterte Denison. Er atmete tief und zittrig ein und riß die Augen auf. Die Erde stand ruhig am Himmel, so gelassen wie zuvor. Er bewegte sich nun langsamer - immer langsamer - immer langsamer
"Stehe ich still, Selene?" fragte er. "Ich weiß es nicht."
"Sie stehen still. Bewegen Sie sich nicht. Sie müssen sich ausruhen, ehe wir uns auf den Rückweg machen... Verdammt, ich habe es doch vorhin hier irgendwo liegenlassen."
Denison beobachtete sie ungläubig. Sie war gemeinsam mit ihm den Hang hinaufgestiegen und wieder hinabgeglitten. Während er nun halbtot war vor Erschöpfung, hüpfte sie mit langen Känguruh-Sprüngen schon wieder durch die Luft. Etwa hundert Meter entfernt rief sie: "Da ist es ja!" Ihre Stimme klang so laut in seinen Kopfhörern, als stünde sie neben ihm. Im Nu war sie zurück - ein zusammengefaltetes dickes Plastiktuch unter dem Arm.
"Wissen Sie noch", sagte sie fröhlich, "als Sie sich beim Aufstieg danach erkundigten und ich Ihnen sagte, daß wir es vor der Rückkehr noch brauchen würden?" Sie faltete das Gebilde auseinander und breitete es auf dem staubigen Mondboden aus.
"Ein Mondsofa - so wird es genannt. Aber wir nennen's nur Sofa. Das Beiwort Mond ist selbstverständlich hier bei uns." Sie steckte eine Patrone in eine Öffnung und legte einen Hebel um.
Das Gebilde begann sich zu füllen. Irgendwie hatte sich De-nison auf ein Zischen gefaßt gemacht, aber natürlich gab es keine Luft, in der sich das Geräusch fortpflanzen konnte.
"Ehe Sie wieder unsere Verschwendung kritisieren", erklärte Selene, "das ist ebenfalls Argon."
Das Gebilde dehnte sich zu einer Matratze auf sechs gedrungenen Beinen.
"Das Sofa trägt Ihr Gewicht", sagte sie. "Es hat sehr wenig Bodenberührung, und das Vakuum schützt vor Hitzeverlust."
"Sagen Sie nur nicht, das Ding ist heiß", sagte Denison erstaunt.
"Das Argon wird beim Einströmen erhitzt, doch nur relativ. Seine Temperatur liegt zum Schluß nur etwas unter dem Schmelzpunkt für Eis. Das ist warm genug, damit Ihr Isolieranzug die Hitze nicht schneller abstrahlt, als er sie neu erzeugen kann. Los. Legen Sie sich hin."