«Das«, erklärte Roger sachlich,»war ein Anruf von Conrad Darlington Stratton, dem vierten Baron.«
Ich schwieg.
«Die Lage hat sich geändert, seit wir am Sonntag bei Ihnen waren«, sagte Roger.»Es steht jetzt allenfalls noch schlechter. Ich wollte noch mal zu Ihnen, aber Oliver hielt das für zwecklos. Und siehe da — hier sind Sie! Was hat Sie hergeführt?«
«Neugierde. Aber wenn man bedenkt, was meine Jungen da heute an dem Hindernis gesehen haben, wären wir besser daheimgeblieben.«»Furchtbarer Schlamassel. «Er nickte.»Ein totes Pferd. Gar nicht gut für den Rennsport.«
«Was ist mit den Zuschauern? Mein Sohn Toby meinte, davon sei auch einer tot.«
Roger sagte entrüstet:»Selbst bei hundert toten Zuschauern gäbe es noch keinen Protest wegen Brutalität im Sport. Die Tribünen könnten einstürzen und hundert Leute erschlagen, die Rennen gingen weiter. Tote Menschen zählen nicht, wenn Sie mich fragen.«
«Hm. der Mann war also tot?«
«Haben Sie ihn gesehen?«
«Nur mit einem Verband überm Gesicht.«
Roger sagte düster:»Die Zeitungen werden es bringen. Das Pferd ist durch die Abgrenzung direkt in ihn hineingeflogen und hat ihm mit dem Vorderbein die Augen aufgeschlitzt — die Renneisen, die die an den Hufen haben, sind messerscharf, es war grausig, sagte Oliver. Aber der Mann ist an einem Genickbruch gestorben. Auf der Stelle tot unter zehn Zentnern Pferd. Das beste, was sich dazu sagen läßt.«
«Mein Sohn Toby hat das Gesicht des Mannes gesehen«, sagte ich.
Roger sah mich an.»Welcher ist Toby?«
«Der Zweitälteste. Er ist zwölf. Der Junge, der mit dem Rad ins Haus gefahren kam.«
«Dann weiß ich’s. Armes Kerlchen. Sollte mich nicht wundern, wenn er davon Alpträume kriegt.«
Toby war ohnehin derjenige, um den ich mir am meisten Sorgen machte, und jetzt auch noch dies. Er war von klein auf rebellisch, hatte schon als Taps gern gezankt und ließ kaum jemand an sich heran. Ich hatte das ungute Gefühl, daß er sich bei aller Mühe, die ich mir gab, in ein paar Jahren zu einem kalten Weltverächter entwickeln würde, allein und unglücklich. Ich spürte, daß es sich anbahnte, und hätte es zu gern verhindert, aber ich kannte so viele Familien, in denen ein geliebter Sohn, eine geliebte Tochter im Teenageralter nur noch Haß und Zerstörung ausgebrütet und jede Hilfe abgelehnt hatten.
Rebecca Stratton, dachte ich, könnte vor zehn Jahren so gewesen sein. Gerade kam sie wie ein Sturmwind in Olivers Büro gefegt, riß die Tür auf, daß sie an die Wand schlug, und brachte eine Welle kalter Außenluft und rasender Wut herein.
«Wo ist der verdammte Oliver?«rief sie und schaute sich um.
«Bei Ihrem Vater.«
Sie hörte nicht zu. Sie war noch in Stiefeln und Reithose, trug aber statt der Rennfarbe einen braunen Pullover. Glitzernde Augen, der Körper wie erstarrt — sie wirkte halb geistesgestört.»Wissen Sie, was sich dieser blöde Quacksalber erlaubt hat? Vier Tage Startverbot hat er mir gegeben. Ich bitte Sie! Vier Tage! Er sagt, ich hab eine Gehirnerschütterung. Daß ich nicht lache. Wo steckt Oliver? Er muß dem Esel klarmachen, daß ich am Montag reite. Wo steckt er?«
Rebecca drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte so energiegeladen hinaus, wie sie gekommen war.
Ich schloß die Tür hinter ihr und sagte:»Wenn Sie mich fragen, hat sie eine ganz gewaltige Gehirnerschütterung.«
«Ja, aber ein bißchen ist sie immer so. Wäre ich der Arzt, dürfte sie gar keine Rennen reiten.«
«Demnach ist sie Ihnen wohl nicht die liebste Stratton.«
Roger wurde sofort wieder vorsichtig.»So habe ich das nicht gemeint.«»Natürlich nicht. «Ich schwieg.»Was hat sich denn nun seit vorigem Sonntag geändert?«
Er blickte auf die hell kremfarbenen Wände, den gerahmten Druck von Arkle, den Wandkalender mit den durchgestrichenen Tagen, auf die große (genau gehende) Uhr und auf seine Schuhe, bevor er schließlich sagte:»Mrs. Binsham ist auf den Plan getreten.«
«Ist das so schwerwiegend?«
«Sie wissen, wer sie ist?«Er war neugierig, ein wenig überrascht.
«Die Schwester des alten Lords.«
«Ich dachte, Sie seien über die Familien nicht informiert.«
«Ich stehe nicht mit ihr in Verbindung, habe ich gesagt, und das stimmt auch. Aber meine Mutter hat von ihnen allen erzählt. Sie war, wie gesagt, mal mit dem Sohn des alten Herren verheiratet.«
«Meinen Sie, mit Conrad? Mit Keith? Oder… mit Ivan?«
«Mit Keith«, sagte ich.»Conrads Zwillingsbruder.«
«Zweieiige Zwillinge«, sagte Roger.»Der jüngere.«
Ich nickte.»Fünfundzwanzig Minuten jünger, und das hat er anscheinend nie verwunden.«
«Es macht wohl auch wirklich einen Unterschied.«
Den Unterschied, ob man die Baronswürde erbte oder nicht.
Ob man den Stammsitz der Familie erbte oder nicht. Ein Vermögen erbte oder nicht. Meiner Mutter zufolge war Keiths Eifersucht auf den fünfundzwanzig Minuten älteren Bruder einer der ständigen Eiterherde, die das Seelenleben ihres Exmannes vergifteten.
Ich hatte noch die Fotos meiner Mutter von der Stratton-Hochzeit. Der Bräutigam, blond, hochgewachsen, sah blendend aus und war so unverkennbar stolz auf sie, so zärtlich zu ihr, daß man meinen konnte, hier hätten sich zwei fürs Leben gefunden. Sie sei damals überglücklich gewesen, hatte sie mir erzählt; erfüllt von einem unbeschreiblich leichten, herrlichen Gefühl der Freude.
Noch kein halbes Jahr darauf hatte er ihr bei einem Streit den Arm gebrochen und ihr zwei Schneidezähne ausgeschlagen.
«Mrs. Binsham«, sagte Roger Gardner,»hat für nächste Woche eine Gesellschafterversammlung anberaumt. Soll ein ziemlicher Drachen sein, Conrads Tante, und anscheinend ist sie das einzige lebende Wesen, vor dem er kuscht.«
Vor vierzig Jahren hatte sie ihren Bruder, den dritten Baron, rigoros dazu gebracht, sich in der Öffentlichkeit von meiner Mutter zu distanzieren. Schon damals war sie der Dynamo der Familie gewesen, die Drahtzieherin, die das Programm festlegte und die anderen nach ihrer Pfeife tanzen ließ.
«Sie hat nie nachgegeben«, sagte meine Mutter.»Sie saß einfach jeden Widerstand aus, bis man sich ihr in Gottes Namen fügte. Da sie auf dem Standpunkt stand, immer recht zu haben, war sie natürlich auch überzeugt, immer das Beste zu wollen.«
Ich fragte Roger:»Kennen Sie Mrs. Binsham?«
«Ja, aber nicht näher. Eine eindrucksvolle alte Dame, sehr rüstig. Sie war öfter mit Lord Stratton zum Pferderennen hier — äh, mit dem alten Lord, nicht mit Conrad —, aber ich habe mich eigentlich nie direkt mit ihr unterhalten. Oliver kennt sie besser. Oder vielmehr«, er lächelte schwach,»er hat schon hin und wieder ihre Anordnungen befolgt.«»Vielleicht schafft sie die Streitigkeiten jetzt ja aus der Welt, und die Lage beruhigt sich«, sagte ich.
Roger schüttelte den Kopf.»Ihr Wort gilt vielleicht bei Conrad, Keith und Ivan, aber die Jüngeren könnten aufmucken, zumal sie nun auch Anteilseigner werden.«
«Ist das sicher?«
«Ganz sicher.«
«Sie haben jetzt also einen Informanten im Nest?«
Sein Gesicht wurde undurchdringlich; er war auf der Hut.
«Davon war nicht die Rede.«
«Nein.«
Oliver kam zurück.»Die Sponsoren sind unglücklich über das tote Pferd, die Ärmsten. Schlechte Publicity. Für so etwas zahlen sie nicht. Sie wollen bis zum nächsten Jahr noch mal darüber nachdenken. «Er klang niedergeschlagen.»Das Rennen war gut belegt, wissen Sie«, erklärte er mir.»Eine 3-Meilen-Jagd mit zehn Startern, das ist schon was. Oft kriegt man nur fünf, sechs oder noch weniger zusammen. Wenn der Sponsor aussteigt, wird das Ganze im nächsten Jahr eine Nummer kleiner.«
Ich bekundete mein Verständnis.
«Wenn es ein nächstes Jahr gibt«, sagte er.»Nächste Woche ist Gesellschafterversammlung… hat man Ihnen das gesagt?«