Kims Blick fiel auf das Funkgerät. Er seufzte, schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das allmählich in Monotonie erstarrende Bild der scharfzackigen Berggipfel, die wie bizarre Raubtierzähne aus dem schwarzen Nichts wuchsen. Nein - Themistokles würde sich sicher nicht über Funk melden, um ihm Landeanweisungen zu geben. Wie hatte Themistokles gesagt? »Jeder Mensch muß seinen eigenen Weg gehen. Auch du. Finde ihn. Du kannst es.«
Kim lächelte. Natürlich. Er mußte seinen Weg selbst finden. Themistokles hatte eine letzte, äußerste Sicherheit eingebaut. Nur wer den Weg nach Märchenmond aus eigener Kraft fand, konnte die Gefahren bestehen, die ihn dort erwarten mochten.
Leises Vibrieren der Maschine ließ Kim zusammenzucken. Er sah aus dem Fenster und bemerkte, daß die Nase der Maschine ganz leicht nach rechts abdriftete. Sofort zog er den Steuerknüppel herum und brachte die Viper wieder auf ihren alten Kurs zurück. Aber der sanfte und doch kraftvolle Sog hielt an. Kim konnte die Maschine mit der Schubkraft der Triebwerke weiter auf Kurs halten, doch sowie er den Steuerknüppel losließ, machte sich die unsichtbare Kraft wieder bemerkbar. Und wie er von den Instrumenten ablesen konnte, wurde der Sog beständig stärker.
Minuten verstrichen. Das Dröhnen der Triebwerke kletterte in eine immer höhere Tonlage empor, als das Schiff mehr und mehr Kraft aufwenden mußte, um dem geheimnisvollen Sog zu entgehen. Die Belastung der Hülle nahm allmählich ein gefährliches Ausmaß an, und aus dem sanften Vorwärtsgleiten der Viper wurde ein rüttelnder Galopp.
Schließlich gab er den Kampf auf. Die Viper war ein mächtiges Schiff, aber den Kräften, die da auf sie einwirkten, hatte sie nichts entgegenzusetzen. Er würde sich und das Schiff in Gefahr bringen, wenn er sich weiter wehrte. Und die Vorstellung, über den tödlichen Graten dieses apokalyptischen Gebirges Schiffbruch zu erleiden, gefiel Kim gar nicht.
Er nahm die Hände vom Steuerknüppel, ließ sich zurücksinken und verfolgte mit klopfendem Herzen, wie der unsichtbare Sog die Maschine in eine enge Kurve und dann an der Flanke des Gebirges hinunterzwang. Die Triebwerke heulten auf. Irgend etwas schlug krachend gegen den Plastikstahl der Kanzel und hinterließ einen langen, häßlichen Kratzer auf dem durchsichtigen Material. Die Viper jagte minutenlang fast senkrecht in die Tiefe, ging dann in einen flachen Sinkflug über und drosselte ihre Geschwindigkeit. Eine steinige Ebene, von großen braunen und beigefarbenen Mustern durchzogen, tauchte unter ihm auf, wurde von einem still daliegenden Ozean und dann von einem weiteren Gebirge abgelöst, dessen schneebedeckte Gipfel längst nicht diejenigen der Schattenberge erreichten, aber noch immer viel höher als die höchsten Gipfel der Erde sein mußten. Die Viper stieg wieder, segelte in elegantem Bogen über die kahlen Berggipfel hinweg und stieß in das dahinterliegende Tal hinunter.
Und in diesem Moment setzten die Triebwerke aus.
Kim saß einen Herzschlag lang wie gelähmt in seinem Sitz und versuchte das Unfaßliche zu fassen. Nicht nur die Triebwerke, auch die Instrumentenbeleuchtung, die Sauerstoffversorgung, ja, jedes einzelne Instrument, jeder Schalter, jede Leitung an Bord der Viper war tot!
Das Raumschiff schoß, von seinem eigenen Schwung wie ein mächtiger Speer vorwärts getragen, weit in das Tal hinaus, schüttelte sich und begann dann wie ein Stein zu stürzen. Die Welt vor der gekrümmten Kanzel wurde zu einem irren Kaleidoskop aus tanzenden Farben und Umrissen. Die Luft strich pfeifend an der Flanke der Maschine vorbei, und Kim spürte, wie diese mit jeder Sekunde schneller wurde.
Er riß mit einer verzweifelten Bewegung den Steuerknüppel heran und hantierte mit fliegenden Fingern an Höhen- und Seitenruder. Ein dröhnender Schlag traf die Maschine, es krachte und knisterte, als breche Metall, als sich die Landeklappen gegen die Kraft der vorbeijagenden Luft stemmten.
Ein Viperjäger ist im Grunde ein reines Raumschiff. Seine aerodynamische Form und die ungeheure Kraft seiner Triebwerke gestatten es ihm, auch in der Lufthülle eines Planeten zu manövrieren. Aber beim bloßen Gedanken, eine Viper wie ein Segelflugzeug zu fliegen, würden jedem Raumpiloten die Haare zu Berge stehen.
Doch Kim war nicht irgendein Pilot. Er war der beste. Schon während seiner Ausbildung hatte er seine Fluglehrer verblüfft, und die langen, einsamen Jahre im All und die unzähligen gefährlichen Einsätze, bei denen sein Leben und das seiner Kameraden einzig und allein davon abhing, daß er seine Maschine um eine Spur besser beherrschte als seine Gegner, hatte ihn zum besten Viperpiloten werden lassen, den die Flotte jemals besessen hatte.
Jetzt, in diesem Augenblick, als der Boden immer schneller auf ihn zukam und sein Leben vielleicht nur noch nach Sekunden zu rechnen war, wuchs Kim über sich selbst hinaus und wagte es, was noch keiner vor ihm gewagt hatte.
Er arbeitete verzweifelt mit Höhen- und Seitenruder zugleich. Der steile Sturzflug der Viper ging in unkontrolliertes Trudeln über. Die Maschine schlug einen halben Looping, raste einen Moment lang in Rückenlage weiter und näherte sich gefährlich dicht der Felswand. Der graugefleckte Stein füllte plötzlich das Sichtfenster aus, überschlug sich und raste dann weiter auf die hilflos trudelnde Maschine zu.
Kim bekam die Maschine für einen Moment unter Kontrolle. Er warf einen Blick auf die brodelnden Wolkenmassen über seinem Kopf und konzentrierte sich dann wieder auf das Unmögliche, das er schaffen mußte, wenn er überleben wollte. Ein harter Schlag traf die Viper, ließ sie in allen Verbindungen ächzen und drängte sie weiter an die Felswand heran.
Kim begann zu schwitzen. Seine Hände zitterten, und sein Herz klopfte so laut, daß er glaubte, es müsse sogar das Heulen des Sturmes übertönen. Vorsichtig, Millimeter für Millimeter drehte er den Steuerknüppel. Er befand sich nicht einmal mehr eine Meile über dem Boden.
Der Fels näherte sich unbarmherzig, während die Maschine in steilem Winkel dem Boden entgegenschoß.
Das Pfeifen der Luft klang mit einem Mal weniger schrill. Die Maschine bebte, schüttelte sich und sackte für einen kurzen, schrecklichen Moment durch. Dann begann sich die spitze Nase langsam zu heben.
Kim atmete auf. Noch war die Gefahr nicht überstanden, aber er wußte jetzt, daß er eine wenn auch noch so winzige Chance hatte. Wie überall in den Bergen gab es auch hier starke, wechselnde Aufwinde, die dicht an den Felswänden emporstrichen, kräftig genug, einen so schweren Körper wie den der Viper zu tragen. Es war ein alter Trick der Segelflieger, die Steigwinde in den Bergen auszunutzen, und Kim hatte die Chance, die sich ihm bot. blitzschnell erkannt. Natürlich hatte er keine Ahnung gehabt, ob der Trick auch bei einem so schweren Flugzeug wie der Viper funktionieren würde - aber es trennten ihn nur noch wenige Sekunden von dem tödlichen Aufprall, so daß ihm keine Zeit für lange Überlegungen blieb.
Die Viper strich heulend an der Felswand entlang, stieg ein paar hundert Fuß in die Höhe und sackte dann wieder durch, um erneut nach oben zu schießen, als Kim vorsichtig den Steuerknüppel betätigte. Wie ein Stein, der über die Wasseroberfläche hüpft, schoß die Viper in immer größeren Kurven an der Felswand entlang und verlor dabei gleichermaßen an Höhe wie an Geschwindigkeit.
Kim handhabte das Steuer so feinfühlig wie ein Virtuose sein Instrument. Er wußte, daß er nicht zuviel an Geschwindigkeit verlieren durfte, um nicht wie ein Stein in die Tiefe zu stürzen.
Der Steuerknüppel in seinen Händen begann sanft zu beben. Kim spürte, daß der kritische Moment gekommen war. Er riß die Maschine noch einmal in die Höhe, zwang sie in einer weiten Kurve von der Felswand weg und ging in flachen Sinkflug über.